Seite wählen

In der griechischen Mythologie stahl Prometheus das Feuer und schenkte es den Menschen. Der technische Fortschritt und die wissenschaftlichen Errungenschaften machten dem Feuer Wärme und Energie. Bis heute gehört es zum Grundbedarf unseres Lebens.

„Hm …” flüsterte ich, als ich nach oben schaute und die grell bunten Lichter am Riesenrad betrachtete. Dann schweifte mein Blick weiter, da er vom Geblinke des Jahrmarktes wie eine Motte angezogen wurde. Dabei streifte er die über mir thronende, typisch verzierte Schrift des Jahrmarktes, den ich im Begriff war, zu betreten.

Ich blinzelte, da das Licht der Schrift dumpf aufblähte und ich ein leichtes Stechen verspürte. Wie Blitze huschte die helle Aufschrift über meine Netzhaut hinweg. „Gott, ist das grell!“, stöhnte ich auf und rieb mir die Augen. Von Energiewende keine Spur.

„Na komm schon!“, schallte es und ich sah, wie Helene den Eingang betrat. Ich verstand noch immer nicht, was ich hier sollte. Die Lichter, die Geräusche, die Playlist, die jeden Song doppelt spielte, sodass man einen musikalischen Kotzkrampf bekam. All das war nicht mein Ding. „Na los, ist doch nicht so schlimm.“ Helene winkte mir zu und war schon ein Stück weiter gelaufen. Genervt betrat ich die Barriere, die metallisch knirschte und folgte ihr. Helenes spontane Idee, auf den Rummel zu gehen, traf mich während eines Castings, das ich für eine potenzielle Rolle für eine Serie gemacht hatte. Meine Agentin beschrieb es als das richtig große Ding für mich. Als hätte ich die Aussage nicht schon mehrfach in meiner Karriere vernommen.

Ein leicht bedrückendes Gefühl überkam mich, was zugleich durch ein Klingeln unterbrochen wurde. Mit zusammengezogenen Augenbrauen suchte ich die Quelle und fand sie in einem bunt beleuchteten Karussell, das langsam den stetigen Kreis des Vergnügens in den lachenden Gesichtern der Kinder zog. Die Blitze der Kameras zuckten auf, um die Freude der Sprösslinge für die Nachwelt einzufangen. Als würde es noch eine Nachwelt geben, dachte ich mir nachdenklich. Die Herausforderungen der heutigen Gesellschaft hinterließen nichts Positives für die Zukunft der Kinder vor mir. Ich atmete ein. Dabei nahm ich allerlei Gerüche wahr. Von angebranntem Fleisch über kandierte Äpfel bis hin zu karamellisierten Mandeln. Allerlei Speisen, um die gesellschaftlichen Volkskrankheiten zu füttern. Ich schluckte mein krampfendes Gefühl herunter und schüttelte den Kopf. „Ach, komm jetzt, lass doch mal deine Stimmung stecken!“, stichelte Helene und hakte sich bei mir ein. „Das ist keine Stimmung“, erwiderte ich: „Es ist einfach nur Verständnislosigkeit. Is’ ja okay, wenn man sich ablenkt. Aber siehst du hier irgendetwas, das den Klimawandel aufhalten soll? Also ich nicht!“ Verärgert schaute ich hin und her. Helene lächelte auf: „Genieß doch einfach nur den Augenblick.“

Die Herausforderungen der heutigen Gesellschaft hinterließen nichts Positives für die
Zukunft der Kinder vor mir.
Es kam mir so vor, als würde ganz Berlin versuchen zu vergessen.

„Hm. Für jemanden, der einen festen Job hat, ist das auch keine große Sache!” Wir liefen auf einen Stand mit Bekleidung zu und Helenes Gesicht wandelte sich von Ärgernis über meine Aussage in einen Jubelschrei. Sie hüpfte regelrecht in die Arme von Jasmina.
Im fünften Monat schwanger war sie aus dem Iran geflohen und über das Mittelmeer, in einem Schlauchboot mit 40 Menschen eingepfercht, nach Europa gekommen. Ein Leidensweg, den man nicht so leicht in Worte fassen konnte. Die sichtbare Narbe auf der linken Wange verschwand in einem Lachen.

Beide waren sich 2015 beim ganzen Chaos im BAMF begegnet. Zusammengedrückt in der Schlange hatte Jasmina versucht, Asyl zu beantragen, was ihr mithilfe von Helene nach einem langen behördlichen Irrweg auch gelungen war. Nun hatte sie, nachdem sie eine kaufmännische Ausbildung und mehrere Deutschkurse hinter sich gebracht hatte, seit fast einem Jahr einen festen Job. Geflohen war sie wegen ihrer freien und offenen Art, die ihrer Familie, ihrem Ehemann und dem Regime ein Dorn im Auge gewesen war. Ein Dilemma, das ich als geborener Deutscher mit Migrationshintergrund nur ansatzweise verstehen konnte. Doch ehe ich den Gedanken weiterspinnen konnte, wurde ich schon von einer herzlichen Umarmung von Jasmina zerdrückt. Nun lebte sie mit ihrer Tochter in Berlin in einer kleinen 2-Zimmerwohnung. Auch wenn die Mieten derzeit extrem steigen, war sie glücklich. Ich lächelte auf, da ihre positive Einstellung auch mich erfasste und mich immer wieder überraschte. „Halet Khube?“, schnalzte sie mir charmant entgegen. Das persische „Wie geht’s dir?“ Mit einem zaghaften Lächeln antwortete ich ein deutsches „Sehr gut!“ Dabei konnte ich mir ein verlegenes Lachen nicht verkneifen. Derweil hatte

Helene den Bekleidungsstand begutachtet und eine Stulpe in die Hand genommen.
„Oh! Ist das Samt?“

„Mhm! Ist es“, lächelte Jasmina auf und freute sich wie ein kleines Mädchen. Es schien so, als hätte sie Spaß am Job. Ich ließ meinen Blick über den Stand schweifen. Er war recht klein, aber vollgepackt mit allerhand Kleidungsstücken. Vor allem für Frauen. Ich schüttelte den Kopf. Auch die Bekleidungsindustrie war eine Welt für sich. Schon vor Jahrzehnten hatte man erkannt, wie vorteilhaft es war, die Industrie auf das weibliche Geschlecht auszulegen. Helene würde jetzt sagen, nur um die Frauen mundtot zu machen. Ich stutzte, da Helene faszinierend die Stulpen anprobierte. Sofort vertieften sich beide Frauen in ein intensives Gespräch. Der Markt schien nun voller geworden zu sein und die Geräuschkulisse lauter. Es kam mir so vor, als würde ganz Berlin versuchen zu vergessen. Zu vergessen, dass Corona noch immer existierte, zu vergessen, dass sich die Gasund Strompreise erhöhten, dass alle Preise stiegen. Zu vergessen, dass die Realität so bedrückend sein konnte. Vielleicht war ich deshalb hier. Um auch zu vergessen und wie Helene sagte, den Moment für einen kurzen Moment zu genießen. Mich zu freuen, dass ich ein Leben hatte. Eine Familie. Freunde, die mich lieben. Jetzt verstand ich Helenes Intention. Trotz aller Widrigkeiten wollte sie mir eine Freude machen. Ich senkte den Kopf und nickte. Mehr zu mir selbst. Dann spürte ich plötzlich eine Hand auf mir. Es war Jasmina, die mit Helene an mich trat und beide lachten auf. Ein Grinsen huschte auch über meine Lippen, und für diesen einen Moment entschied ich mich, den Abend zu genießen. „Na, wie wär’ es mit einem Glühwein?“

(Anm.: Diese Kurzgeschichte ist reine Fiktion. Sie besitzt keinerlei Bezug zu tatsächlichen Personen, Organisationen oder Ereignissen)

FAROUK EL-KHALILI
+ posts