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Es ist schon merkwürdig mit der menschlichen Stimme: Von den ersten Babylauten bis zur hellen und manchmal hochfrequenten Kinderstimme dauert es nicht lange. Und wer vor dem Spielplatz einer Kita steht, vermag auf den ersten Blick, nein, auf das erste Hören hin, nur wenig Unterschiede in dem allgemeinen Geschrei und Gezwitscher wahrzunehmen. Andererseits kann man auch bei Kindern oft schon sehr individuelle Klangfarben heraushören, die ihre Stimmen auch im späteren Leben unverkennbar machen.

Mit der Pubertät wechselt die Stimme, zuweilen mit heftigen Schwankungen. Beim Synchron wurden deshalb manchmal Jungen, die in den Stimmbruch kamen, gnadenlos durch Mädchen ersetzt – nicht zuletzt auch deshalb, weil Mädchen nur halb soviel präpubertäres Chaos im Studio veranstalteten. Wenn man seine jugendliche Stimme hat, bleibt die einem zwar für eine etwas längere Zeit erhalten, aber verändert sich langsam bis hin zur „erwachsenen“ Stimme, die einen dann die längste Zeit des Lebens begleitet. Das ist, grob gesagt, die Theorie. Die Praxis ist aber wie so oft anders …

Schon in früheren Jahren tauchten in der Gruppe der jugendlichen Synchronschauspieler*innen, die so zwischen 14 – 18 Jahre alt waren, plötzlich Erwachsene auf, die im wahrsten Sinn des Wortes „mitsprechen“ sollten. Ein Irrtum der Aufnahmeleitung? Oder gar ein Fall von Vetternwirtschaft? Keineswegs. Diese Kolleg*innen waren zwar im Schnitt gute zehn Jahre älter als wir, hatten aber ihre jugendlichen Stimmen behalten, sodass sie sehr gut in unser „Klangbild“ passten. Das hat sich seit einiger Zeit gewandelt, und oft wird jetzt von Auftraggeber*innen darauf bestanden, dass die deutschen Sprecher*innen das gleiche (Lebens-)Alter wie die von ihnen Synchronisierten haben. Dabei wäre es doch wichtiger, dass das „Stimmalter“ zur Rolle passt.

Versierte Aufnahmeleiter*innen kennen aus Erfahrung oft die Stimmen besser als das genaue Alter der Synchronschauspieler*innen, denn das ist wich tig für eine gute, sprich: treffende Besetzung. Auch wenn manchmal (aus verständlichen oder unerfindlichen künstlerischen Gründen) gegen das Original besetzt wird, gibt es im Normalfall wenig Diskrepanz zwischen Darsteller*in und deutscher Stimme.

In letzter Zeit hat man aber zuweilen den Eindruck, dass überwiegend anhand des Geburtsjahres aus einschlägigen Listen besetzt wird. Denn wer hat schon noch Zeit, sich im Atelier mal anzuhören, wie das dann klingt? Und ob’s „passt“? Während das sogenannte Spielalter für Schauspieler*innen eine ganz normale Rubrik in ihrem Steckbrief ist, gibt es als Pendant das „Stimmalter“ nicht.

Ganz zu schweigen von den vielen anderen Möglichkeiten, nicht nur Stimmen, sondern auch kör perliche Merkmale hörbar zu machen. Man muss nicht unbedingt dünn oder dick sein, um dicken oder dünnen Menschen glaubhaft die Stimme leihen zu können. Deshalb braucht es für eine Bewerbung in unserer Branche keine schicke Photo(shop)-Serie, sondern vielseitige Stimmproben. Und dann kann ja jemand raten, wie „alt“ die Sprecher*innen hinter diesen Stimmen sind …

* Die Ausnahme ist natürlich der klassische Fall, wenn statt der gewohnten deutschen „Feststimme“ jemand anderes zu hören ist, was ungewohnt, unangenehm oder sogar völlig „fehlbesetzt“ klingt.

Stefan Krause
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Synchronisiert schon seit analogen Zeiten in Hamburg, München und (hauptsächlich) Berlin. Er ist seit Anbeginn Mitglied des IVS und der Gewerkschaft ver.di, seit 2007 in der Redaktion der UNSYNCBAR und seit 2019 in der SCHAUSPIEGEL-Redaktion.
Er lebt, liest und arbeitet autolos & mobil in Berlin-Kreuzberg.