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Eine Heldin, die als Held geboren wird, oder ein Held, der zur Heldin wird – spielt das überhaupt eine Rolle? Orlando durchlebt vier Jahrhunderte britischer und europäischer Menschheitsgeschichte, lebt am Hofe Elizabeths I., verliebt sich während eines sagenumwobenen Festes von James I. auf einem gefrorenen Fluss unglücklich in eine russische Prinzessin, versucht sich als Schriftsteller, wird Gesandter Charles II. in Konstantinopel, kehrt als Frau nach Großbritannien zurück, schreibt, gibt Partys im aufgeklärten 18. Jahrhundert, liebt Männer und Frauen, Prostituierte wie Adlige, und heiratet im zugeknöpften Viktorianischen Zeitalter einen Mann.
Mann, Frau, muss Orlando sich überhaupt entscheiden? Orlando erlebt, wie Menschen, Natur, Systeme und Regime sich in einem ständigen Wandlungsprozess befinden; Sitten, Gebräuche und Vorstellungen davon, was ein Mann, was eine Frau zu tun haben, was richtig und was falsch ist, worüber ein Künstler schreiben soll, worüber eine Frau nachdenken darf, sich ständig verändern. Orlando erfährt, wie sich das Wetter wandelt und das politische Klima, wie sich Begehren und Geschlechterrollen entwickeln. Orlando schaut auf Menschen, die für Natur halten, was in Wahrheit doch menschengemacht ist.

Veränderung über alle starren Grenzen – auch zwischen
Kunst und Leben hinweg – ist das große Thema des Romans.

Virginia Woolf schrieb 1928 mit ihrer Biografie von Orlando eine Lebensbeschreibung, die alle starren Kategorien mit Leichtigkeit und künstlerischer Freiheit unterläuft, neu mit Bedeutung auflädt oder als fluide vorführt. Spielerisch verwebt sie Leben und Kunst, Realität und Fiktion miteinander zu einem visionären Werk. Sie schuf eine*n der schillerndsten Held*innen der Literaturgeschichte, deren Überfülle an Identitäten jedwede enge Zuschreibung und starre Kategorisierung sprengt. Alles in Orlando ist Fiktion, Orlandos Biographie ist reine Erzählung, Erfindung, und doch ist der Stoff, aus dem Woolf ihren Roman spinnt, ihr eigenes Leben: Vorbild für ihre fantastische Romanfigur war Woolfs Freundin und Geliebte, die Adlige Vita Sackville-West, auch andere Freund*innen und Weggefährt*innen oder prominente reale Persönlichkeiten sind in der einen oder anderen Romanfigur zu erkennen. Woolfs Vater, Sir Leslie Stephen, war ein berühmter Intellektueller und Herausgeber des „Dictionary of National Biography“, und so ist Woolfs Roman, der Kapitel für Kapitel mit seiner Lebenserzählung über Jahrhunderte, Regentschaften, Kontinente und Geschlechtergrenzen hinwegspringt und damit die Form der Biographie zugleich erst nimmt und ad absurdum führt, auch eine Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk des eigenen Vaters.
„The change is incessant” sagt Orlando an einer Stelle, „Die Veränderung hört nicht auf “ und Veränderung über alle starren Grenzen – auch zwischen Kunst und Leben hinweg – ist das große Thema des Romans: Alles verändert sich unablässig, nur Orlando wird kaum älter und erfährt das, was verschiedene Gesellschaften zu verschiedenen Zeiten unhinterfragt als natürlich erleben, als menschengemacht: Sitten, Gebräuche, Höflichkeit, Liebe, Sexualität, das Sprechen über Kunst; die Rollen, Pflichten und Verbote, denen Männer und Frauen zu verschiedenen Zeiten unterworfen sind; sogar die Natur und das Klima wechseln beständig. Als Mann und als Frau kann Orlando zu unterschiedlichen Jahrhunderten verschiedene Perspektiven einnehmen auf die Privilegien und Zwänge, die mit dem Mann- und Frausein einhergehen, bereut es, als Frau nicht länger den Degen benutzen zu dürfen, fühlt sich eingezwängt in viktorianische Reifröcke und nicht ernst genommen als Gastgeberin von Salons und Teerunden mit berühmten männlichen Künstlern und Intellektuellen. Orlando kommt zu dem für ihre Zeit unglaublich visionären Gedanken, dass alle Menschen männliche und weibliche Anteile in sich tragen, mal dem einen, mal dem anderen Geschlecht zuneigen und lebt zum Ende des Romans komplett selbstbestimmt alle diese Anteile in sich aus.
Der Veränderung auf der Bühne begegnen – Katie Mitchells Multimedia-Inszenierung Das Springen über die Grenzen von Zeiten, Epochen, Moden, Kontinenten, Sprachen, Fiktion/Biographie und Geschlechter hinweg, die unablässige Veränderung, die so wichtig ist in Virginia Woolfs Orlando, ist eine große Herausforderung für jede Bühnenadaption. Natürlich ist auf einer Theaterbühne nichts unmöglich: Robert Wilson inszenierte den Romantext 1989 als Monolog der Schauspielerin Jutta Lampe, mit formalisierten Bewegungen und Bildern, und ließ die Zeit- und Geschlechtersprünge rein im Text und den Köpfen der Zuschauer*innen stattfinden. Die britische Regisseurin Katie Mitchell, die seit langem an der Schaubühne inszeniert, geht mit ihrem künstlerischen Team und Schauspieler*innen-Ensemble den entgegengesetzten Weg.
Wir hatten uns vorgenommen, in der Inszenierung, die im Sommer 2019 Premiere feierte, und seit- her im Repertoire der Schaubühne läuft, Orlandos Blick auf die Veränderungen in der Welt sichtbar zu machen: die Veränderungen in der Mode, der Moral, dem sozialen Miteinander und vor allem die Konstruktion von Männer- und Frauenrollen auch auf der Bühne zu zeigen. Der Veränderung im Romantext begegneten wir mit einer Inszenierung, die den Kapiteln des Romans folgt, die Romanhandlung mit den Mitteln von Theater und Film erzählt und dabei selbst beständig selbst Veränderung erzeugt, Illusionen schafft und gleichzeitig deren Gemachtheit zeigt: neben den Schauspieler*innen İlknur Bahadır, Philip Dechamps, Carolin Haupt, Isabelle Redfern, Alessa Schmitz, Konrad Singer, die alle Romanfiguren verkörpern – Männer spielen Männer, Männer spielen Frauen, Frauen spielen Männer, Frauen spielen Frauen – denen der/die von Jenny König gespielte Orlando begegnet, stehen mehrere Kamerafrauen und -männer, ein Boom Operator mit Tonangel mit auf der Bühne.

Natürlich ist auf einer Theaterbühne nichts unmöglich

Das Bühnenbild ist ein Filmset, an dem live jeden Abend erneut zwei Inszenierungen stattfinden: auf der Bühne sieht man Schauspieler*innen, Kameraleute, Tonangler und eine große Anzahl von im Theater immer wichtiger, meist aber unsichtbarer Menschen bei der Arbeit zu, wie sie Einstellung für Einstellung gemeinsam live einen Film drehen: Requisiteure räumen ein Himmelbett ins Königsgemach, bauen einen viktorianischen Salon mit Tischdecken und Teeservice auf, und gleich nach gefilmter Einstellung wieder weg; Bühnentechniker*innen verschieben Wände, um für die Kamera die Illusion von neuen Räumen zu erzeugen und gleich wieder verschwinden zu lassen. Gleich mehrere Ankleiderinnen und Maskenbildner*innen sind ständig damit beschäftigt, den Darsteller*innen die hunderte von verschiedenen historischen Kostüme, Gewänder, Fracks, Reifröcke, Krinolinen an- und wieder auszuziehen, während Maskenbildner*innen die entsprechenden Haartrachten, Perücken und Make-up verändern.
Auch spielen manchmal mehrere Schauspieler*innen eine Figur, zum Beispiel doubelt jemand für die Kamera Orlandos Hand, während sich Orlando für den nächsten Auftritt in einem neuen Jahrhundert umzieht oder zur nächsten Kameraposition eilt. Eine jeden Abend wiederholte Choreographie aus tausenden kleinen Einzel-Handlungen, die für die Kamera gespielt werden, erzeugt auf der Filmleinwand über der Bühne die perfekte Illusion der Filmhandlung, die Orlandos Blick auf die sich verändernde Gesellschaft und ihre Geschlechterbilder erzählt. Digitale und analoge Techniken stehen nebeneinander, verbinden sich zu Orlandos Lebenserzählung. In einer Sprecherkabine sichtbar verleiht Cathlen Gawlich der Erzählerin des Romans eine Stimme. Hin und wieder tritt Orlando aus der Rolle und weist die Erzählerin zurück an ihren Platz; dann kommt es zu Reibereien und lustvoll ausgetragenen Unstimmigkeiten zwischen der Protagonistin Orlando und der Erzählerin, die sich Unzumutbares für ihre Heldin ausdenkt – wie zwischen Virginia Woolf und Vita Sackville-West. Die Veränderung, die Menschengemachtheit von Moden, Moralvorstellungen und Geschlechterrollen, die den Roman als Grundmotiv durchzieht, findet ihre theatrale Übersetzung in einer Inszenierung, die digitale Filmillusion und ihre analoge Herstellung auf der Bühne mit viel britischem Humor verbindet.

Die nächsten Vorstellungen sind im Dezember geplant. Aktuelle Infos unter: schaubuehne.de/de/spielplan/programm.html

NILS HAARMANN
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