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Wenn Kolleg*innen in meinem Alter ihn lesen, könnten sie denken; ja und, weiß ich doch alles. Wem will sie das erzählen? Wenn Kolleg*innen, sagen wir um Mitte 30, ihn lesen, könnten sie denken; na ja, das weiß ich schon, aber, warte mal, daran hatte ich noch nicht gedacht …

Und wenn die Kolleg*innen jünger sind, vielleicht gibt es ein kleines Aha-Erlebnis.
Was ich hier schreibe, ist keine Besserwisserei, sondern das Ergebnis von Erfahrungen, die ich selbst über viele Jahre gemacht habe. Und weil ich eher eine Spätblüherin bin, könnten diese Erfahrungen anderen vielleicht schon früher behilflich sein. Das würde mich freuen.

Kommt ein Rollenangebot ins Haus geflogen, ist die Freude groß und alle Zellen strecken sich nach der Herausforderung der Rolle. Nur, wie oft lesen wir die Rolle und merken, es ist nichts da, nichts vorhanden, das uns Einblicke in die Figur gibt, was uns hilft, eine Rolle emotional auszustatten.

Statt sich darüber zu ärgern, eventuell zu kapitulieren und die Rolle dann „einfach zu spielen“, es „für die Miete“ zu machen oder was auch immer, ist es genau dieser Punkt, an dem unsere Kreativität gefordert und eingesetzt werden sollte – fast noch mehr, als wenn Du eine wundervoll beschriebene und geschriebene Rolle bekommen hast.

Das Erarbeiten einer Rolle besteht darin, Fragen zu stellen und Entscheidungen zu treffen. Auch bei Rollen, bei denen es scheinbar wenig Futter gibt. Wenn es den Autor*innen nicht gelingt, uns eine

Rolle mit Seele und Eigenleben zu schreiben, müssen wir das tun.
Ergo, mach Dir die Rolle zu eigen.

Ein kleines Beispiel:

Du hast nur zwei Szenen, in denen Du einen lebenden Menschen darstellen kannst.
In der ersten Szene bereitet die Figur Essen für die Kinder vor, mehr nicht.

Kocht die Figur gerne?
Wenn ja, wie drückt sich das aus?
Ist sie gut oder schlecht gelaunt?
Hat die Rolle einen Kater, weil gestern gefeiert wurde?
Ist die Rolle in Eile? Hat sie sich eben an der Pfanne verbrannt?
Hat sie Sorgen, weil eines der Kinder eine Essstörung hat?
Brennt etwas an?

Es ist egal, ob diese Fragen im Film beantwortet werden. Sie geben Euch, den Schauspielenden, Material für die Szene, geben Dir „Futter“, damit Du etwas zu spielen hast und aus einem mageren Angebot einen Menschen mit Innenleben gestalten kannst. Du füllst die Rolle mit Leben, auch wenn sie „nur“ Essen zubereitet. Du hast mit der Antwort auf diese Fragen schon begonnen, Dir die Rolle zu eigen zu machen.

Natürlich kann es sein, dass Dein Angebot „zu viel“ ist, wie manchmal von der Regie gesagt wird, also reduzierst Du Dein Spiel, kein Problem. Das geht ja, weil Du ein Innenleben hast, weil Du Beweggründe hast, weil Du mehr von der Rolle weißt, als „X steht am Herd und kocht“ und so kannst Du mit den Regieanweisungen gut umgehen. Gleichzeitig spürt die Regie Deine Spielfreude und lernt Deine Fantasie kennen.

In dem Moment, in dem Du anfängst, Dir Gedanken über den Zustand und das Innenleben Deiner Rolle zu machen, wird sie meistens auch greifbarer.

Vielleicht zuerst mal von außen rangehen: Wie sieht die Figur aus?
Schlampig? Spießig?
Unordentlich, aber teuer?

Gut frisiert, aber nachlässig gekleidet? In Klamotten aus der Mottenkiste?

Entscheide Dich und begründe die Entscheidung. Der erste Blick auf einen Menschen sendet ungeheuer viel Information an sein Gegenüber. „Ein Bild ist mehr wert als 1000 Worte“, Ihr kennt das Sprichwort. Dieses Bild, bestehend aus den un- ausgesprochenen Worten, können wir vermitteln, wenn wir die Rolle mit unseren Ideen füllen. Wenn wir sie uns zu eigen machen.

Es gibt viele Ansätze, um an die Figur ranzukommen.
Zum Beispiel, was erzählt das Milieu, in dem die Rolle sich bewegt?

Diese Frage gibt schon irre viel Information über das Aussehen preis.
Und schon hast Du Material für das erste Gespräch mit der Kostümbildner*in. Erzähle von Deiner Vorstellung, tausche Ideen aus. Je mehr Du über Deine Rolle sprichst, desto mehr wird sie vor Deinen Augen wachsen, sich formen und Gestalt annehmen. Sie wird Dir immer näherkommen. Du fängst an, sie Dir zu eigen zu machen.

Denn darum geht es auch: Deine Rolle und wie Du sie verstehst, wie Du sie spielen und erzählen willst, zu schützen. Natürlich müssen wir gleichzeitig auf das hören, was die Regie sich vorstellt und von Dir/der Rolle will. Es ist ja eine Zusammenarbeit. Aber die Erfahrung zeigt, dass die meisten Regisseur*innen sich über Deinen Einsatz und Deine Vorbereitung freuen werden und dankbar sind für das, was Du einbringst und anbietest. Daher ist es auch wichtig, vor Drehbeginn mit der Regie über die Rolle zu sprechen.

Einige werden jetzt denken, ja, aber ich habe nicht so ein Standing, dass ich um ein Gespräch bitten kann oder es ist ja keine Hauptrolle, ich hab ja nur zwei Drehtage, vielleicht nur einen …

Mit Verlaub, das ist die falsche Denkart.
Ich selbst habe sie lange genug aus Angst und Scham praktiziert, bis mir klar wurde, dass ich mir und meiner Arbeit schade, wenn ich den Schnabel nicht aufmache.
Wenn ich so denke, denke ich eher an mich und nicht an die Rolle.
Wenn ich so denke, verrate ich meine Rolle.
Wenn ich so denke, komme ich meiner Verpflichtung als Schauspielerin nicht ausreichend nach. Wenn ich so denke, kneife ich, weil ich Angst habe, dass man mich nicht mehr mögen wird, dass ich als „schwierig“ gelte, ich nehme mich – auch in aller Bescheidenheit – zu wichtig.
Ich schütze meine Rolle nicht.
Ich habe gelernt, dass es mein Recht und meine Aufgabe als Schauspielerin ist, Fragen zu stellen. Schon beim Casting, und es ist, nebenbei bemerkt, auch ein Casting für die Regie, ob wir überhaupt miteinander können. Und besonders, wenn ich schon für die Rolle besetzt worden bin.

Was ich sagen will: Lasst Euch von einem schwachen Drehbuch, einer nicht gut geschriebenen Rolle, nicht unterkriegen. Der Spaß, das Spiel, das Jonglieren mit unseren Fähigkeiten, das Zusammenspiel mit den Kolleg*innen, der Austausch mit der Regie wächst, sprießt und macht heiß, wenn Ihr Euch die Rolle zu eigen gemacht habt. Und das innere Glück strahlt, wenn wir merken, mit welcher Hingabe wir aus einem blassen, zweidimensionalen Papier-Menschen einen lebenden, denkenden Warmblüter mit starkem Innenleben geschaffen haben!

Leslie Malton
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ist Botschafterin für Kinder mit RETT-Syndrom www.rett.de.
Das Buch, „Brief an meine Schwester“, zusammen mit Roswitha Quadflieg geschrieben, gibt es aktuell noch als Hörbuch. Eine Neuauflage des Buches steht in Aussicht.