Seite wählen

Wurdest du schon mal auf einer Probe angeschrien? „, hat Bruno Cathomas David Attenberger nach der Verleihung der Schweizer Preise Darstellende Künste gefragt. „Noch nie”, hat David geantwortet und stumm staunend, wehmütig oder beeindruckt, hat Bruno David die Hand geschüttelt. Und ich dazwischen. Links von mir Bruno Cathomas, vom BAK ausgezeichnet als hervorragender Spieler, der in seiner Rolle als Regisseur in Bern mehr Zeit, heißt mehr Geld, für die Kunst fordert. Rechts von mir David Attenberger, eine Person, die mich mit ihrer sanftmütigen Diplomatie auf der Probe beeindruckt und fürs Erstengagement noch im Bachelor direkt von der ZHdK gefischt wurde. Ich schaue links und sehne mich nach Verausgabungstheater und Pipi-Kacka Humor. Ich schaue rechts und sehne mich nach Sanftmut. Die Welt ist bereits ver- ausgabt. Auf der einen Seite sehe ich in den Spiegel und auf der anderen die benötigte Veränderung. Und ich in der Mitte.
Ich brauche Bruno und ich brauche David. Ach, würde mir mal wieder eine Regie klar etwas entgegenrufen und ein bisschen manipulativ meine Stärken hervorlocken! Jetzt muss ich das selber machen. Ich schaue in mein Glas, ich schaue auf den See und David durchschaut mich. Ich kann mir auf dem Weg zum Hotel später mindestens einen verächtlichen Kommentar über meine reaktionäre Wunschliste anhören. David Attenberger ist meine Ruhrpottliebe. Gemeinsam stießen wir in der Spielzeit 22/23 zum Theater Neumarkt (obwohl bei sieben Personen im Ensemble keine Rede von dazustoßen sein kann). Unsere erste gemeinsame Produktion war „EWS – der einzige Politthriller der Schweiz“ – jetzt, dank des Teams um Julia Reichert und Piet Baumgartner, preisgekrönt. It was a match you could say. Ich brauche David. Warum? Weil David genervt ist, wenn ich meinen Text immer noch nicht kann, mit den Augen rollt, wenn ich auf Proben ungeduldig werde und mir einen mahnenden Blick gibt, wenn ich mit glühendem Fieber eine Vorstellung spiele. Dazu später mehr.
Und dass wir an besagtem Abend am Luganer See stehen und mit Bruno, Julia und Piet anstoßen, ist unsere Arbeit. Nicht nur die mit der Produktion, sondern unsere persönliche Arbeitsbeziehung, in die wir gerade investieren.
Etwas steht zwischen uns. Worüber wir sprechen müssen, auch wenn David gerade in Genf probt und ich in Zürich Vorstellungen spiele und unsere nächste gemeinsame Produktion noch Monate hin ist. Unglaublich, aber häufiger als in zwei Produktionen begegnen wir uns pro Spielzeit nicht. Und trotzdem sprechen wir über meine Arbeit in einer anderen Produktion, von der David kein Teil war, aber zu hören bekommen hat, dass ich eine hitzige Auseinandersetzung hatte. David findet es nicht gut, wenn ich mir mit meiner Emotionalität schade, auch wenn David recht hat, kann ich nicht immer wohltemperiert reagieren. Dafür habe ich mich auch entschuldigt. Worum es mir aber geht, ist der Mechanismus, den wir beide haben. Wir nehmen uns in die Pflicht. Wir muten uns einander zu. Wir wollen was voneinander. Und zwar entspannte Arbeitsprozesse und Stücke, die uns zu spielen Spaß machen. Wir sind Kompliz*innen auf Zeit. Wir fordern uns heraus und lernen voneinander. Weil die Möglichkeit, sich nicht miteinander auseinanderzusetzen, gibt es in einem Ensemble nicht. Wir sind alle aufeinander angewiesen. Wir müssen uns auf der Bühne und bei der Ensemblearbeit vertrauen. Dazu muss ich nüchtern sein, feinfühlig und geduldig, aber auch nicht zu empathisch, die Probleme der anderen sind nicht meine Aufgabe. Unangenehmes ansprechen. Carearbeit leisten. Die Leitung kann da nur unterstützen.
Das Neumarkt ist für mich der Versuch, genau das umzusetzen, wonach alle im deutschsprachigen Theaterraum dürsten. Angstfrei auf Augenhöhe proben. Augenhöhe heißt auch, dass die Leitung mit mir entscheidet, ob ich spiele oder nicht und dass ich ebenfalls die Verantwortung für meine Gesundheit trage. Daher geht der mahnende Blick an mich, wenn ich trotz Erkrankung spiele. Julia hatte mir noch fünf Minuten vor Vorstellungsbeginn eine Absage in Aussicht gestellt. Jetzt stecken David und ich wieder in einem gemeinsamen Probenprozess und loten die richtige Menge an Gelassenheit und Produktivität aus.

Wir sind alle aufeinander angewiesen. Wir müssen uns auf der Bühne und bei der Ensemblearbeit vertrauen.

Denn bei den ganzen Diskursen ums Wie und Wer muss auch noch was rumkommen. Und dabei meine ich nicht, dass ein Versuch nicht auch mal scheitern und eine Premiere abgesagt werden kann. Auch Mut hat die Leitung vom Neumarkt bewiesen. Wir brauchen mutiges Theater, das manchmal einfach nicht stattfindet. Auch dann entstehen wieder neue, wichtige Räume. Sowohl in meinem Engagement in Aachen, als auch in meinem Engagement am Neumarkt hatte ich Kompliz*innen, die mich herausgefordert und mit mir Projekte entwickelt haben, die nur durch die Kraft eines Spieler*innenkollektivs entstehen konnten. Das Ensemble ist und bleibt für mich der Kern des Theaters und manchmal führt es zu ganz besonderen Arbeitsbeziehungen. Daher freue ich mich jetzt schon auf jede Reibung zwischen mir und David, die uns der Premiere näher bringt …

MELINA PYSCHNY
+ posts