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Wer diese Frage so von sich gibt, muss wohl zu jenen gehören, die es sich leisten können, die Welt vom Thron der Ironie zu betrachten. Die Themen brennen und damit die Welten in diesen Themen.

Am 30. August 2021, vier Wochen vor der Bundestagswahl des angetretenen Klimakanzlers Olaf Scholz, sortierten die Tagesthemen die Krisen des Tages folgendermaßen: Die Stadt Wuppertal wird Zum Hotspot der Corona-Pandemie und Juliane Fliegenschmidt vom WDR kommentierte die Situation so: „Wie viel wurde den Kindern schon abverlangt? Anderthalb Jahre haben sie jetzt schon zurückgesteckt, damit die Erwachsenen nicht krank werden. […] Solidarität zwischen den Generationen ist eben keine Einbahnstraße.“ Am selben Tag liefen die letzten Stunden des 20-jährigen Auslandseinsatzes in Afghanistan ab und läuteten damit eine humanitäre Katastrophe ein. Die Grünen-Abgeordnete und geoutete Transfrau Tessa Ganserer wird in ihrem Wahlkampf vorgestellt. Die Inflation steigt auf 3,9 Prozent, prognostiziert werden bis zu fünf Prozent. Warum die Tagesthemen auf ein für mich einschneidendes Ereignis nicht Bezug nehmen, ist mir unbekannt. Nämlich darauf, dass an diesem Tag mehrere junge Menschen in den Hungerstreik treten, um dem Willen der letzten Generation, der Anerkennung der Klimakrise und ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen. Sie treten an diesem Tag in einen Hungerstreik, weil sie keine andere Möglichkeit sehen, für dieses Thema ernsthafte Aufmerksamkeit zu erzeugen. Das eigene Leben bewusst zu gefährden, ist eines der radikalsten Szenarien, zu denen Menschen fähig sind. Was wird die Generation, die ohne die Solidarität der Alten aufwächst, was werden die, die jetzt Kinder sind, tun und uns allen vorwerfen, wenn sie erwachsen sind? Ist das dann die Mega-Krise?

Robert Habeck, der sich als besorgter Vater einen Abend ins Zelt der Aktivist*innen schleicht, zollt ihnen Respekt und kriegt die prompte Antwort, dass er keinen Respekt haben soll, sondern handeln, weil er sich aktiv in die politische Position gestellt hat.

Jetzt, knapp zwei Jahre später, sind die Krisen nicht weniger geworden. Ukraine-Krieg, Iran Revolution, Nein Danke zur Atomkraft, Ja zur Kohle und dem Ende von Lützerath und bei der Wahl zum Klimaneustart in Berlin, mit einer Wahlbeteiligung von 35,7 Prozent stimmen 423.594 Menschen aktiv mit Nein und damit gegen ein klimaneutrales Berlin 2030 ab. Der Mensch kann nicht verzichten, schon gar nicht auf seine Gewohnheiten, und bevor er sich selbst infrage stellt, zeigt er sein trotzigstes Gesicht und kauft sich demnächst CO2 Ausgleichspakete. Erst wenn in einem Frühling der Kirschgarten nicht mehr zu blühen anfängt, wenn wir nicht mehr wissen, ob wir morgen noch Wasser zu trinken haben werden, erst wenn wir alle lokal betroffen sein werden, werden wir uns im Ganzen ändern wollen.

Eine Krise ist im Allgemeinen ein Höhe- oder Wendepunkt einer gefährlichen Konfliktentwicklung in einem natürlichen oder sozialen System. Wir Geschichtenerzähler*innen kennen Konflikte und Krisen genau, weil wir sie in unseren Geschichten ständig kreieren. Ich frage mich auch, was würde Christoph Schlingensief wohl machen, der den Spruch geprägt hat: „Krise als Chance“? Würde er den Kopf von Olaf Scholz fordern, aufgrund seiner Untätigkeit in dieser Zeitenwende, wie einst den von Kohl oder würde er alle Spiegel dieser Welt zerstören, damit niemand mehr hineinsehen müsste? Würde er den riesigen Herausforderungen künstlerisch trotzen? Kann man diesen Herausforderungen künstlerisch trotzen oder bleibt nur der mutige und auf die Chancen der Veränderung bauende Blick nach vorn?

Aber von welcher Krise reden wir exakt und welche jetzt als Erste? Gibt es einen Messias, der sich zu einer Antwort vom Berg herunter bequemt? Ich frage mal Chat GPT, die A.I. hat doch jetzt die Lösung für alles oder bei Social Media, wem folge ich denn da? Kann ich diese Verantwortung bitte bitte an jemanden übertragen?

„Finanzierung, Relevanz und Auftrag von Theater, soziale Sicherungssysteme, Diversität, faire Arbeitsbedingungen, Respekt, attraktives Gehalt, Fachkräftemangel, Nachhaltigkeit. Nun haben alle verstanden, dass es so nicht weitergeht und jetzt heißt es ab durchs Fenster und #ReinInDieStrukturen. Um diese Strukturen zu eurer Milkey Way zu machen.“ – Regina Leenders Teil des Vorstands des ensemble-netzwerk e.V. auf der Bundesweiten Ensemble Versammlung 2022 in Berlin.

 

PAUL MAXIMILIAN PIRA
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