
Frühjahr 2021. Ich freue mich. Ich erhalte eine Recherche Förderung von der Kulturbehörde Hamburg. Ich möchte den Zeitraum des Freien Theaters in Hamburg, speziell das Wirken der Freien Gruppen in der Kulturfabrik Kampnagel, in den 1980er – 90er Jahren beleuchten.
Wir erinnern uns: Frühjahr 2021. Lockdown. Die Kulturlandschaft und ihre Künstler*innen liegen brach. Wo sind sie alle geblieben, die vielen Künstler*innen? Eigentlich eine schlechte Zeit für alle Kulturschaffenden. Paradoxerweise eine gute Zeit für mich, um meine Interviewpartner*innen aufzusuchen und sie zu einer Erinnerungsreise einzuladen. Ich stelle einen Fragenkatalog und eine Namensliste von über 30 ehemaligen Akteur*innen der Freien Theaterszene zusammen. Mir kommt in den Sinn, dass in konventionellen Theaterhäusern die Geschichte der Vorgänger*innen geehrt wird und man mit weichen Knien liest, wer schon alles in diesem ehrenwerten Hause gespielt hat. Die freie Szene hat keine aufgezeichnete Geschichte, keine Wertschätzung, kein wirkliches Archiv.
Die freie Szene hat keine aufgezeichnete Geschichte, keine Wertschätzung, kein wirkliches Archiv.
Es ist warm, viele meiner Gesprächspartner*innen treffe ich draußen in den Gärten, in Cafés, auf Terrassen. Meiner kleinen Handykamera stecke ich ein Licht, ein Mikrofon auf. Noch unbedarft zeichne ich die Gespräche für eine bessere Auswertung auf, ohne jedoch zu ersehen, welch ein interessantes und wichtiges Zeit- und Zeugen Dokument damit entsteht. Meine Ausgangsfrage an alle meine Interviewpartner*innen lautet: Hat es sich für Dich gelohnt? Wäre eine Karriere in konventionellen Sinnen nicht leichter gewesen, besonders in Anbetracht der vielen Schwierigkeiten des Überlebens auf dem Gelände?
„Wir mussten um alles kämpfen, um Stücke zu erfinden, um Auftrittsorte, um Essen, Spritkosten, um Plakatieren zu dürfen, die Aufzählung ist endlos …“, erzählt mir Sebastiano Toma ehemals von den Fliegenden Bauten, einer der bekanntesten Freien Theatergruppen.
Doch wie fing alles an? Gerade letztes Jahr im Oktober feierte die internationale Kulturfabrik Kampnagel im Hamburger Stadtteil Barmbek ihr 40-jähriges Bestehen. Sie ist heute längst ein Markenzeichen der Stadt und wird wie die anderen großen Theaterhäuser subventioniert. Wie kam es dazu? Vor vierzig Jahren war das noch von niemandem vorherzusehen. Ganz im Gegenteil, die Abrissbirne hing wie ein Damoklesschwert über viele Jahre über dem Gelände.
Ein Rückblick auf den Beginn der 1980er Jahre: Das Schauspielhaus in Hamburg muss aufgrund von aufwendigen Sanierungsarbeiten geschlossen werden. Als Ausweichquartier wird die stillgelegte Fabrik Kampnagel ausfindig gemacht. Die Schauspieler*innen vom damaligen Ensemble sind sofort animiert und wittern, dass hier eine gute Zeit anbricht, so auch Michael Schönborn: „Ich war einer der Ersten, die das Gelände überhaupt betreten haben … das war vorher eine Industrieproduktion, von Theater weit und breit nichts, das war wunderbar, ein Stück Freiheit.“
Die Fabrik Kampnagel entpuppt sich schnell als Geheimtipp und Anziehungsort für viele Künstler*innen und Besucher*innen.
Helga Schuchardt, damalige Kultursenatorin, erinnert sich: „Der Funke, Kampnagel als Kulturstätte zu nutzen, ist übergesprungen, ursprünglich war Wohnungsbau geplant.“
Für das Schauspielhaus wurden drei verschiedene große Theatersäle ausgebaut, die K2 mit 250 Plätzen, die K1 mit 150 Plätzen und die große multifunktionale Halle K6 plus Verwaltungsgebäude, Casino und Werkstätten.
„Und wenn die zurückgehen, sollte alles abgerissen werden, das kann nicht sein“, erzählt mir Marion Martienzen, Schauspielerin ehemals vom Pantheater.
So kam es im Oktober 1982 zur ersten Besetzungs- probe der Freien Gruppen mit Unterstützung von vielen Gästen auch außerhalb Hamburgs. Erste Erfolge zeichnen sich ab. Mücke Quinckhardt und Hannah Hurtzig können als Intendant*innen-Team oder wie sie sich selbst titulierten als „Dilettant*innen“, das Gelände verwalten und die Spielpläne gestalten. „Wir hatten ein Wahnsinns-Abenteuer Adrenalin im Blut“, erinnert sich Mücke Quinckhardt. In jährlichen Schritten wird immer wieder um den Erhalt der Hallen gekämpft, obwohl das Renommee der Kulturfabrik Kampnagel schon weit über Hamburgs Grenzen hinaus international anerkannt war. Es gab die vage Weisung von der Politik: „… solange das Gelände vom Publikum angenommen wird.“ Tja, das kann man so oder so auslegen.
Heiß her gingen auch die politischen wie künstlerischen Diskurse innerhalb der Freien Gruppen. Es ist die Zeit der Mitbestimmung am Theater. Aber ist das für jede*n gut? Während meiner Schauspielausbildung habe ich viele Gespräche verfolgt und empfand diese zum Teil heftigen Auseinandersetzungen eher verstörend. „Na ja, da standen die Leute schon sehr unter Konkurrenz“, resümiert Stefanie Grau, ein sogenanntes Urgestein der Freien Szene, die schon 1982 bei der ersten Besetzungsprobe dabei war und heute als eine feste Größe mit dem Kindertheaterschiff in Hamburg etabliert ist. In unserem Interview erfahre ich, dass sie die Leitung ihrer Tochter übergibt. Kein leichter Schritt bei der schwierigen Gesamtsituation für die Kultur.
In der Natur des Freien Theaters liegt wohl der Überlebenskampf. Reflektierend auf diese Zeit lassen sich bestimmt Parallelen zu heute ziehen. Ich erhoffe mir mit der Recherche, das immer noch Besondere an Ausdruck und Erscheinung des Freien Theaters herauszukristallisieren. Es sind berührende Momente des Erinnerns entstanden an diesem besonderen Ort und dem Feeling der Zeit, auf dem damals noch riesigen und wilden Kampnagelgelände, das für viele der Dreh- und Angelpunkt ihrer Karriere war und auch ein Stück Heimat bedeutete.
Mein Resümee: bei aller Unterschiedlichkeit des Erlebens dieser Jahre der Hamburger Freien Theaterszene kann ich zusammenfassen: „Kampnagel war eine besondere Zeit – für alle!”
