Es ist der 10. August 2022. Adriane sitzt an ihrem Arbeitsplatz „Kotflügel rechts”, es gibt gerade eine Störung an der Maschine, das Band ist leer. Verschnaufpause. Adriane nestelt ihr Handy aus der Hosentasche und öffnet Instagram. Sie sieht die Story einer Bekannten, die offenbar gerade in einer Sinnkrise steckt, und sie kommentiert: „I feel you.” Pling! Die Bekannte antwortet: „Oje. Magst du deinen Job auch nicht?”
Und dann brechen bei Adriane alle Dämme. „Ich schrieb ihr einen Roman, was ich in meiner Vergangenheit bedauere und erzählte ihr über meine Probleme”, erinnert sie sich. „Ich habe ihr alles geschrieben, was mich belastet, schrieb es mir direkt von der Seele. Da habe ich erst einmal gemerkt, unter welchem Druck ich die ganze Zeit stand. „Ich habe angefangen zu heulen und konnte nicht mehr aufhören.” Der Kollege, der gerade bei „Kotflügel links” arbeitet, eilt herbei. „Ist alles in Ordnung?”, fragt er bestürzt. Adriane kann sich nicht beruhigen. Der Kollege ruft den Gruppensprecher, Adriane wird zum Meister – und schließlich nach Hau- se geschickt. „Das war so ein Moment, in dem ich dachte: Ich kann dort nicht mehr arbeiten. Das ist nicht das Leben, was ich führen möchte.”
Seit sie denken kann, will Adriane Schauspielerin werden. Schon als Kind ist sie begeistert von Tanz, Konzert, Theater und Film. Sie flüchtet sich in die Welt des Fernsehens, stellt sich vor, ein Teil davon zu sein. Sie will bei „Schloss Einstein”, „Die wilden Hühner” und „Die wilden Kerle” mitspielen. Hauptsache wild. Überhaupt ist Adriane ein Eneriebündel. Wenn Musik läuft, tanzt sie drauflos.
„Das war so ein Moment, in dem ich dachte: Ich kann dort nicht mehr arbeiten. Das ist nicht das Leben, was ich führen möchte.”
„Ich habe mir vorgestellt, wie sie mich auslachen würden.”
Wie viele Kinder in diesem Alter träumt sie vorm Spiegel davon, in Wirklichkeit von der Bühne aus in die begeisterten Gesichter eines applaudierenden Publikums zu schauen.
Aber etwas unterscheidet sie eben doch von den meisten anderen Kindern: Adriane ist seit ihrer Geburt taub.
Sie wächst mit ihren hörenden Eltern, ihrer hörenden Halbschwester und vier schwerhörigen Halbgeschwistern auf. Ihre erste Sprache ist die Gebärdensprache. Mit drei Jahren bekommt sie ein Cochlea Implantat eingesetzt, mit dem sie ein wenig hören kann. So erlernt sie auch die Lautsprache mühelos. Ihre Eltern legen großen Wert darauf, dass Adria- ne mit Hörenden zusammen ist, und so kommt sie nach einiger Zeit im Gehörlosenkindergarten, wo sie sich mit den anderen Kindern hauptsächlich in Gebärdensprache verständigt, in einen normalen Kindergarten. Und später in eine normale Grund- und Realschule. Sie wächst vorwiegend in der hörenden Welt auf. Das ist nicht leicht für Adriane. In der Schule freut sie sich immer auf zu Hause, wo sie wieder mit ihren Geschwistern gebärden kann. „Gebärdensprache ist meine Wohlfühlsprache”, schwärmt sie, „meine Superkraft.”
Es sind hauptsächlich ihre Eltern, Großeltern und Geschwister, die ihr immer wieder eintrichtern: „Adriane, du hast keine Chance in der Schauspielbranche. Siehst du jemals gehörlose Stars?” Solche Sätze treffen Adriane hart. Sie fühlt sich nicht ernst genommen. Stattdessen recherchiert sie heimlich im Internet, will es irgendwie alleine schaffen. Aber als Kind kommt man nun einmal ohne Erziehungsberechtigte nicht weiter. Sie ist so entmutigt, dass sie nicht mal ihren Freund*innen von ihrem Traum erzählen mag: „Ich habe mir vorgestellt, wie sie mich auslachen würden.”
Ich wünsche mir, dass Inklusion selbstverständlich wird.
Auf Drängen ihrer Eltern macht sie eine Ausbildung als Industriemechanikerin bei einem großen Autohersteller. Während die Lehrjahre noch Spaß und Abwechslung bieten, gestaltet sich die anschließende Arbeitswelt wie eine Szene aus Chaplins „Modern Times”: Fließbandarbeit. Kotflügel links, Kotflügel rechts, Motorhaube, Hecktüren links und rechts. Schrauben nachziehen, Adapter einsetzen Schrauben nachfüllen, Adapter entfernen, Schrauben einsetzen – und alles wieder von vorn. „Und das jeden Tag. Jeden Tag gleiche Aufgaben und gleicher Ablauf. Und täglich grüßt das Murmeltier.”
Ein Anker in dieser Zeit ist Adrianes ebenfalls gehörlose Lebensgefährtin. „Sie hat mich bestärkt. Sie hat gesehen, wie schlecht es mir ging und wusste, aufgehalten.” wie viel Spaß ich an Schauspielerei habe. Sie sagte mir immer wieder, dass ich Talent habe und meinen Weg gehen solle. Sie wolle mich bei allem unterstützen, was ich tue.”
2019 unternehmen die beiden eine Weltreise: in einem Jahr insgesamt 29 Länder in Afrika, Asien, Europa und Südamerika. Auch diese Reise hat etwas mit ihr gemacht. „Auf der Weltreise konnte ich einfach nur ich sein, ohne in einer Rolle zu stecken, einfach nur ich. Da war so eine Leichtigkeit, die ich vorher nicht kannte.” Unterwegs treffen die beiden auch viele Gehörlose, die sie inspirieren. Menschen, die ein eigenes Business aufgebaut haben, selbstständig sind, ihren Träumen folgten. Für Adriane sind es Vorbilder: „Ich dachte mir so: Wenn die das schaffen, schaffe ich es auch.”
2020 kommt sie über einen Aufruf auf Instagram in Kontakt mit dem Gehörlosentheaterverein Dortmund, der dort die jahrzehntelange Tradition des gebärdensprachlichen Theaters fortführt, um gehörlosen Menschen – für die selten kulturelle Erlebnisse in ihrer Sprache angeboten werden – die Teilhabe am kulturellen Leben zu ermöglichen. Adriane wirkt in mehreren Theaterstücken mit, es beflügelt sie sehr. Für sie sind die Menschen im Verein wie Familie.
Daneben arbeitet sie weiter am Fließband. 2022 dann der Zusammenbruch in der Firma. Nachdem ihr Meister sie nach Hause geschickt hat, führt sie lange, sehr emotionale, aber auch sachliche Gespräche mit ihrer Partnerin, ihren Schwiegereltern und engen Freund*innen. Adrianes Gedankenkarussell rotiert. Zweifel, Ängste nagen an ihr. Sie fragt sich, ob es wirklich eine gute Idee sei, den Weg zu gehen, den sie sich so sehr wünscht. Ob sie überhaupt
psychisch stabil genug sei, um professionelle Schauspielerin zu werden. Die Gespräche sind anstrengend – aber auch befreiend. „Alle haben mich ermutigt und bestärkt. Ich fühlte mich stark und sagte zu mir: Ich kann es schaffen.” Nur mit ihren Eltern konnte sie darüber nicht sprechen. „Sie hätten mich
aufgehalten.”
Am 15. August schließlich bittet sie ihren Meister um einen Aufhebungsvertrag. Dieser reagiert geschockt. Damit hat er niemals gerechnet. Er redet auf Adriane ein: „Bist du dir sicher?“ Adriane ist sich sicher. Ja, ja und nochmals ja! „Ich hatte schon lange den Gedanken zu kündigen, aber der Chat mit meiner Bekannten hat das dann ins Rollen gebracht. Dafür bin ich ihr sehr dankbar”, sagt Adriane heute lächelnd. Zu Hause stößt sie mit ihrer Lebensgefährtin auf die Kündigung an, für beide ist es ein Tag zum Feiern: „Sie wusste ja, dass ich große Angst davor hatte und war stolz auf mich, dass ich diesen Schritt endlich gewagt habe.”
Wenn man überhaupt Geld bewilligt bekommt, ist es meistens zu wenig. Anträge werden abgelehnt, mit der Begründung, man könne doch von den Lippen ablesen. Das ist Diskriminierung.
Adriane zweifelt keine Sekunde mehr an ihrer Entscheidung. Die Kündigung hat etwas in ihr gelöst: „Ich fühlte mich ab dem Moment stark und frei. Ich fühlte: Jetzt stehen mir alle Türen offen und ich kann machen, was ich will.” Und tatsächlich öffnet sich bald darauf die erste Tür für sie: Das Staatstheater Mainz ist auf der Suche nach einer gehörlosen Schauspielerin. Adriane erfährt davon über eine Bekannte, die Gebärdendolmetscherin ist. „Sie schlug mich vor und so kamen wir in Kontakt.” Seitdem fliegt Adriane in der Rolle der Fee Tinkerbell in der Oper „Peter Pan” über die große Staatstheaterbühne.
Gebärdensprache ist die Feensprache. Sie liebt diese Rolle: „Endlich darf ich wieder frech und gemein sein.” Gehörlose Schauspieler*innen auf deutschen Theaterbühnen sind nach wie vor eine Rarität. Und auch gehörlose Zuschauer*innen werden nur selten mitgedacht. „Ich merke von früher bis heute schon viel Unterschied, was Inklusion angeht”, räumt Adriane ein. „Aber es ist noch nicht genug. Ich wünschte mir, dass Inklusion selbstverständlich wird.” Adriane hat ganz konkrete Vorstellungen, wie inklusiveres Theater funktionieren könnte: „Es ist klar, dassman nicht alle Theaterstücke barrierefrei gestalten kann. Aber ich finde, dass jedes Theater mindestens ein inklusives Stück pro Monat anbieten können sollte. Wenn ein Theaterstück auf Gebärdensprache gespielt wird, sollten auch auf der Homepage Gebärdenvideos zu sehen sein. Auch das Kassen- und Foyer-Personal sollte dann Grundlagen der Gebärdensprache erlernen. So freuen sich die Besucher*innen und fühlen sich willkommen.”
Ein Hemmschuh ist auch die Finanzierung: „Ich wünschte mir, die Anträge zur Kostenübernahme für Gebärdensprachdolmetscher*innen wären weniger kompliziert. Es ist wirklich nervenaufreibend. Wenn man überhaupt Geld bewilligt bekommt, ist es meistens zu wenig. Anträge werden abgelehnt,
mit der Begründung, man könne doch von den Lippen ablesen. Das ist Diskriminierung.” Adriane ist sich durchaus bewusst, dass Gebärdensprachdolmetscher*innen teuer sind – was wiederum tauben Schauspieler*innen zu allem Überfluss ein schlechtes Gewissen verursacht. „Aber das sollte nicht so sein!”
Adriane ist endlich dort angekommen, wo sie immer sein wollte. Auch ihre Eltern sind heute stolz auf sie und unterstützen sie, wo sie können. Bisher haben sie keine Vorstellung ihrer Tochter verpasst. „Theaterspielen bedeutet für mich Leben. Ich tauche in eine andere Welt und begeistere mit meiner Rolle das Publikum. Ich liebe die Atmosphäre auf der Bühne. Beim Applaus bin ich jedes Mal emotional geladen. Es ist ein tolles Gefühl, dass es den Leuten gefällt. Es gibt mir die Bestätigung: Das hast du gut gemacht. Und ich möchte überhaupt nichts anderes mehr machen.”