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LEA FASSBENDER: Liebe Frauke, neben der oben genannten Auswahl an Projekten hast Du im Jahr 2022 sowohl einen vielversprechenden Zweiteiler für die ARD Degeto abgeschlossen, den Masuren-Krimi, als auch an den Hamburger Kammerspielen das Stück Die Reißleine inszeniert. Was begeistert Dich an Deinem Beruf als Regisseurin?
FRAUKE THIELECKE: Ich könnte als Regisseurin auch sagen: „Ich bin viele”, da der Begriff für mich Dutzende Aufgaben unter einem Dach vereint: Ich möchte packende Geschichten erzählen, mich in neue und alte Welten einlesen und dazu recherchieren, mich mit Schauspieler*innen auseinandersetzen und spannende Locations mit meiner Vorstellung für die Geschichte verbinden.
Das Schöne daran ist, dass ich als Regisseurin mit so vielen Spezialist*innen zusammenarbeiten darf. Filmemachen ist konstantes Fragenstellen: Ich habe eine Vision, der Head von dem jeweiligen Gewerk hat eine Vision, und zusammen entwickeln wir sie stetig weiter, bis wir zufrieden sind. Ich schätze die Teamarbeit und den stetigen Austausch, die Unvorhersehbarkeiten, mit denen man am Set konfrontiert wird. Andere müssen sich mit der linken Hand die Zähne putzen, damit Synapsen neu verknüpft werden, ich habe jeden Tag den Luxus des Neuen und Überraschenden. Das kommt meiner Persönlichkeit sehr entgegen. Mein Beruf triggert meine Energie und umgekehrt.

Wie definierst Du aus ganz persönlicher Sicht Unterhaltung in heutigen Krisenzeiten in unserer Branche?
Unterhaltung kann mehr als Ablenkung oder Zerstreuung. Ich bin großer Fan von Serien wie White Lotus oder Filmen wie Triangle of Sadness oder Nomadland. Diese Werke schaffen es, Gesellschaftskritik in eine spannende Handlung zu verpacken, ohne den Zuschauer*innen die politische Botschaft mit dem Holzhammer zu vermitteln. Es wird nicht nur an der Oberfläche gekratzt, sondern wir erleben die intimsten Momente der Protagonist*innen und werden in ihre Welt gesogen. So werde ich persönlich als Zuschauer*in am liebsten unterhalten. Und diese Werke erreichen auch in Deutschland ein breites Publikum. Unsere Gesellschaft zersplittert nicht nur seit der Pandemie meiner Meinung nach immer mehr, und da kann das Verbindende eines Films oder einer Serie hilfreich sein. Die Aufgabe der Öffentlich-Rechtlichen wäre hier, über Ethnien und Bildungsklassen hinweg ein Publikum an sich zu binden. Sie sollten die qualitativen Marktführer sein, aber sie nutzen ihre Privilegien zu wenig. Und das, obwohl sie politisch so unter Druck stehen.

Das Schöne daran ist, dass ich als Regisseurin mit so vielen Spezialist*innen zusammen- arbeiten darf. Filmemachen ist konstantes Fragenstellen.
Das erfordert Mut und Kreativität sowie ein größeres Vertrauen in die Zuschauer*innen, die meiner Meinung nach stetig unterschätzt werden.

Inwieweit hat sich der Begriff „Unterhaltung” oder auch die gesellschaftliche Bedeutung davon, den Wert, Nutzen und auch Gestaltung verändert und was bedeutet es für die Arbeit in der Branche? Unterhaltung wird entweder gefeiert oder herabgewürdigt, je nach Tageslaune, -form oder momentanen Standpunkt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass in Deutschland immer noch zwischen „E” und „U” unterschieden wird, und häufig eben über „U” die Nase gerümpft wird. Aber viele Formate sind besser als ihr Ruf, denn auch unter einer vermeintlich harmlosen Liebesgeschichte können aktuelle Themen wie Leben im Alter, Armut, Umgang mit Geflüchteten, Generationenkonflikt, Benachteiligung von Randgruppen oder LGBTQ+ liegen. Diese werden den Zuschauer*innen dann näher gebracht, und der ein oder andere Blickwinkel wird vielleicht langsam und stetig verändert. Natürlich dürfen diese Motive deutlicher herausgearbeitet werden und natürlich gibt es noch Luft nach oben. Aber ich würde mir wünschen, dass wir aus diesen Schubladen herauskommen. Das erfordert Mut und Kreativität sowie ein größeres Vertrauen in die Zuschauer*innen, die meiner Meinung nach stetig unterschätzt werden. Es gibt eine große Grauzone zwischen Traumschiff und Wannseekonferenz, mit der Möglichkeit, mit einem breiten Publikum in Dialog zu treten. Wenn wir Film wieder mehr als Kunst und weniger als Fließbandware sehen, können wir diese Chance nutzen.
Siehst Du neue Herausforderungen für Deinen Beruf als Filmemacherin und wie äußern sich diese? Vielleicht magst Du uns von Deinen prägendsten Erlebnissen während der Dreharbeiten erzählen.
Eine neue – oder vielleicht nicht mehr ganz so neue – Herausforderung ist für mich, dass Drehbücher teils so spät kommen oder noch in der Entwicklung sind, wenn der Dreh bereits startet. Das erschwert die Vorbereitungszeit bzw. verlagert die Vorbereitungszeit in die Drehzeit, in der man eigentlich andere Dinge zu tun hat. Recherche, Casting, Motiv- suche, Kostüm, Ausstattung – alles verschiebt sich nach hinten und bewirkt, dass alle Gewerke ohne Wochenende durcharbeiten müssen und nach dem Dreh entsprechend ausgelaugt sind. Außerdem führt es nicht gerade dazu, dass wir bessere Geschichten erzählen. Ich würde mir mehr Commitment wünschen, dem Team den bestmöglichen Start in die Dreharbeiten zu geben – und dazu gehört eben das bestmögliche Buch. Geschichten brauchen Zeit, die sollte ihnen gegeben werden.

Ich vermisse, dass der gesellschaftliche Status quo aufgebrochen wird. Seit Jahren wird sowohl im Kino als auch im Theater eine primäre Lebensrealität erzählt.
Mir macht die fehlende Nachwuchsarbeit große Sorgen.

Eine ebenfalls nicht ganz so neue Herausforderung ist, dass ich als Regie meine Ideen nicht nur vertreten, sondern dafür kämpfen muss. Der Handlungsspielraum ist kleiner geworden. Traditionell gibt es beim Film viele Entscheidungsträger*innen, und das ist auch gerechtfertigt, denn sie stellen das Geld. Trotzdem würde ich mir mehr Vertrauen in die Regie und wie oben schon erwähnt in die Zuschauer*innen wünschen. Der kleinste gemeinsame Nenner für alle macht nicht den spannendsten Film. Rein künstlerisch sehe ich in meiner kreativen Entwicklung, dass ich aufgrund der bereits genannten Situation die Story und Figuren der Filme, für die ich angefragt werde, noch stärker hinterfrage und auch selbst angefangen habe zu schreiben. Ich vermisse, dass der gesellschaftliche Status quo aufgebrochen wird. Seit Jahren wird sowohl im Kino als auch im Theater eine primäre Lebensrealität erzählt. Ebenso wie in Talkshows fehlt mir im Film die Diskursarbeit. Das sind natürlich hehre Ziele, die sich nicht in allen Formaten umsetzen lassen. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass auch in Vorabendserien Entscheider*innen sitzen, die nicht vor großen Themen zurückschrecken. Ein wunderbares Beispiel ist Notruf Hafenkante, wo ich die Chance bekam, sowohl ein Kiezmärchen zu erzählen als auch eine Folge über eine dissoziative Identitätsstörung zu inszenieren. In der Branche Partner*innen zu finden, mit denen sich solche Stoffe realisieren lassen, ist ein großes Glück. Ich bin immer auf der Suche nach solchen besonderen Menschen.
Wie wirken sich diese Zeiten mit ihren Schwierigkeiten auf die Gewerke aus und gab es besondere Bedingungen während der Zeit am Set?
Mir macht die fehlende Nachwuchsarbeit große Sorgen. Ich merke, dass mittlerweile Menschen am Set stehen, denen Übersicht und Planungssicherheit fehlen. Das ist gar nicht deren Schuld, denn man kann diese Qualitäten nicht haben, wenn man niemanden hat, der sie einem beibringt. Das führt aber dazu, dass Abläufe am Set nicht mehr rund sind und insgesamt die Arbeit erschwert wird. Da ich vor meinem Regiestudium an der Hamburg Me- dia School lange als Continuity und Regieassistenz gearbeitet habe, neige ich dazu, Aufgaben zu über- nehmen, die gar nicht meine sind. Glücklicherweise gibt es jetzt Nachwuchsförderprogramme, wie zum Beispiel von der MOIN Filmförderung Hamburg/ Schleswig-Holstein. Aber hier müssen wir schnell handeln. Und das bedeutet auch, sich die Arbeitsbedingungen anzuschauen. Was gibt es für Möglichkeiten, die Arbeit am Set attraktiver zu gestalten? Die anderen Herausforderungen haben sich nicht geändert: Zeit und Budget werden immer knapper, es gibt diesen „Hauptsache, der Dreh läuft”-Anspruch. Die komplizierten hygienischen Maßnahmen während der Pandemie haben nicht dazu geführt, dass man mehr Drehtage hatte, sondern diese wurden im Gegenteil noch gekürzt, um den Zeitplan einzuhalten. Die Regel „Was man in 21 Tagen schafft, kann man auch in 19 Tagen schaffen”, ist nicht endlos anwendbar. Von den künstlerischen Ansprüchen, die man dabei links liegen lassen muss, ganz zu schweigen.
Unterscheiden sich die Umgangsweisen und die Qualitätsansprüche wie auch der sozialpolitische Anspruch als Spiegel unserer Gesellschaft und die derzeitigen Strukturveränderungen deiner Meinung nach zwischen Film und Theater?
Meiner Meinung nach unterscheiden sie sich tatsächlich nicht. Natürlich gibt es ein Ungleichgewicht, was das Budget angeht. Aber überall wird darum gerungen, Zuschauer*innen zu bekommen und zu halten und dennoch relevant und qualitativ hochwertig zu erzählen. Das führt oft zu einem unangenehmen Spagat, zum kleinsten gemeinsamen Nenner. Es wird zu wenig gewagt, es herrscht die Angst vor Misserfolg, der Quoten- und Erfolgsdruck bestimmt, was erzählt wird. Die Nische des Kleinen Fernsehspiels ist zu klein: Warum schafft man nicht einen Programmplatz, der rein zum Ausprobieren da ist? Eine Spielwiese inklusive eines einkalkulierten Scheiterns. Aber eben auch mit der Möglichkeit, Stoffe in die Welt zu bringen, die das Weltbild ordentlich durcheinander rütteln. Das gilt auch fürs Theater: Die „Rüttelstoffe” müssen nicht nur den dafür bekannten Theatern vorbehalten sein. In der Saison könnte ein Stück auftauchen, das nicht zu der sonstigen Machart des Theaters passt. So werden Türen nach und nach ein bisschen weiter geöffnet. Dafür ist die BBC in den 60er-Jahren ein gutes Beispiel: Die Redakteur*innen sind auf die Kreativen zugegangen und haben sie aktiv aufgefordert, sich etwas auszudenken, und ihnen einen Programmplatz gegeben.

Viele Vorabendserien wie Notruf Hafenkante haben sich vorbildhaft ein 50:50 erarbeitet, aber wenn es um Hauptabend und die „dickeren Fische” geht, wird bei der Regiebesetzung eher nach Männern geschaut.

Fühlst Du Dich als weibliche Regisseurin und Frau in der Branche wertgeschätzt und gleichgestellt? Worin liegen Chancen und Möglichkeiten, und wo wird vielleicht noch nicht genug gehandelt?
Ich bekomme viele Newsletter von sehr guten Agenturen, die von den Dreharbeiten ihrer Klient*innen berichten. Unter der Rubrik „Regie” stehen dann zu 80 Prozent Männernamen. Frauen tauchen meist im Vorabendbereich auf. Am Anfang meiner Karriere war ich häufig im Pool mit einem männlichen Regisseur, für den sich dann oft entschieden wurde – mit der Begründung, dass Männer ja eher als Frauen Führungspersönlichkeiten seien. Später hat er dann die Jobs bekommen, „weil er schon so viel gemacht hat”. Im Grunde hat sich nicht viel geändert, auch wenn es manchen vielleicht so vorkommt. Viele Vorabendserien wie Notruf Hafenkante haben sich vorbildhaft ein 50:50 erarbeitet, aber wenn es um Hauptabend und die „dickeren Fische” geht, wird bei der Regiebesetzung eher nach Männern geschaut. Mir geht es nicht als einzige Regisseurin so, mich immer noch beweisen zu müssen, auch wenn ich über fünfzehn Jahre Erfahrung und sehr gute Ergebnisse vorzuweisen habe. Frauen traut man auch einen Genrewechsel weniger zu. Aber wie jede Schauspieler*in, die ausgebildet ist, verschiedene Rollen zu spielen, wollen wir auch unterschiedliche Geschichten erzählen, uns in unterschiedlichen Genres bewegen: Ich habe einige romantische Komödien gedreht, aber jetzt mit sehr viel Lust die beiden Masuren-Krimis inszeniert. Natürlich ist es bequemer, den Regisseur zu nehmen, der schon abgeliefert hat. Aber man gewinnt einen neuen Blickwinkel, ein überraschenderes Ergebnis, wenn man sich wirklich bemüht, Regisseurinnen zu besetzen. Und zwar deshalb, weil man es will, weil es vielleicht auch entscheidende Vorteile für die Geschichte und den Film hat – und nicht, weil man es muss. Die Organisation ProQuote, die sich für ein 50:50 einsetzt, leistet da einen wertvollen Beitrag. Meiner Meinung brauchen wir die Quote, weil sonst zu wenig passiert und die obengenannte Bequemlichkeit siegt.

Meiner Meinung nach brauchen wir die Quote, weil sonst zu wenig passiert und die obengenannte Bequemlichkeit siegt.

Worauf freust Du Dich, wenn Du in die Zukunft blickst, was motiviert und inspiriert Dich, weiterhin Filme zu machen?
Besser werden kann es immer. Aber ich bin sehr zufrieden damit, dass hochwertige Unterhaltungsformate ihr Publikum finden. Jetzt muss der Blick noch ein bisschen offener, weiter werden. Ich freue mich sehr darüber, dass es so viele Mitstreiter*innen gibt, die diese Herausforderungen sehen und anpacken. Und auch wenn wir noch einen langen Weg vor uns haben, weiß ich, dass steter Tropfen den Stein höhlt. Gute Geschichten finden immer ihren Weg. Ich bin ein optimistischer Mensch, das hat mich in

der Branche schon oft gerettet, und so sehe ich auch der Zukunft entgegen. Ich glaube, dass das Schubladendenken „Die hat ja noch gar nichts oder nur das und das gemacht, dann kann sie das nicht” bald zu einem Ende kommt, denn besonders gut sind wir ja nicht damit gefahren. Sonst wäre der deutsche Film sowohl im Kino als auch im Fernsehen besser, progressiver und reicher. Neue, mutige Produktionsfirmen kommen ans Ruder, die Vertrauen in ungewöhnliche Formate und Ideen haben. Es sind noch viele kleine und größere Brände zu löschen, aber wir sind auf einem guten Weg.

Wann können wir Deine nächste Regiearbeit sehen und was möchtest Du an dieser Stelle gerne noch erwähnen, welche Ideen kommen Dir zu dem Thema ganz spontan?
Die Masuren-Krimis, Die dunkle Seite und Bluts- bande werden voraussichtlich erst 2024 in der ARD ausgestrahlt. Das Märchen von den zwölf Monaten ist aktuell noch in der ARD-Mediathek zu sehen.

Vielen Dank für das schöne Interview und Deine Zeit.

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