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Die Welt steht Kopf und das nicht erst seit gestern. Eine Krise jagt gefühlt die nächste. Gerade eben erst haben wir uns von den schlimmsten Einschränkungen der COVID-19-Pan- demie erholt, wir dürfen wieder Familie und Freunde uneingeschränkt treffen und noch besser, sogar in den Arm nehmen, da greift Russland mit massivster Militärgewalt die Ukraine an. Seit über einem Jahr schon herrscht nur 1.547,90 km Luftlinie entfernt von uns ein brutaler Krieg, dessen Ausmaße wir uns hier im gemütlichen Deutschland nur im Geringsten vorstellen können. Aber Moment, gemütlich? Bei einigen dürfte es in diesem Winter aufgrund der rasant angestiegenen Strompreise und der Angst vor einer Gasmangelsituation vonseiten der Politik auch längst nicht mehr so gemütlich sein wie die Jahre zuvor. Neulich habe ich beim Spaziergang mit unserem Hund einen kleinen Jungen getroffen, der mir berichtete, dass seine Familie jetzt nur noch bei der Tante duschen gehen würde, weil sie ihren Strom vom Amt bezahlt bekäme. Und das auch nur samstags. Das hat mich sehr betroffen gemacht und mich daran erinnert, dass die aktuelle Situation viele Familien finanziell vor eine große Herausforderung stellt. Neben all diesen „neueren Krisen“, die mit einem Schlag wie ein offenes Feuer entfacht worden sind, lodert eine ganz große Krise derweil kontinuierlich und konstant weiter und bedroht die gesamte Menschheit: der Klimawandel. Wir können nicht mehr länger die Augen davor verschließen, dass die Erde wärmer geworden ist, um genau zu sein, um 1,2 Grad Celsius. Unsere Erde hat sozusagen Fieber, aber keins, was so mir nichts, dir nichts, mit ein paar Wadenwickeln oder im Notfall einer Ibu gesenkt werden kann. Die Folgen bekommen wir alle mehr oder weniger stark zu spüren, häufigere Stürme, Flutkatastrophen, heftige Waldbrände, längere Dürren – die Liste ist noch längst nicht erschöpft und lässt sich leider ins Unermessliche weiterführen.

Wir können nicht mehr länger die Augen davor verschließen, dass die Erde wärmer geworden ist, um genau zu sein, um 1,2 Grad Celsius.

Im Angesicht all dieser Krisen und Katastrophen erscheint Kultur beinahe als empathieloser Luxus, auf den man lieber verzichten sollte. Während in der Ukraine die Menschen seit Monaten in Luftschutzbunkern, ohne Strom und ohne lebenswichtige Medikamente sitzen, Menschen aufgrund von Flutkatastrophen oder Waldbränden alles verlieren und sogar bei uns hier in Deutschland Kinder bei ihren Verwandten duschen müssen, weil die Eltern sich so viel warmes Wasser nicht mehr leisten können, jammern wir hier über das Aussterben der Kinos.
Ist die Frage, die wir uns stellen müssten, nicht vielmehr, ob es nicht anmaßend ist, sich in einem dunklen Kinosaal von einem Film berieseln zu lassen? Grenzt es nicht an Realitätsverlust, Popcorn knuspernd so zu tun, als wäre alles in Ordnung, während anderswo Regenwälder und Korallenriffe zerstört und damit Millionen von Tieren ihres Lebensraumes beraubt werden? Ist es nicht verantwortungslos, während einer weltweiten Pandemie, die viele Menschen das Leben gekostet hat, und immer noch kostet, ohne Corona-Schutzmaske mit lauter Fremden in einem Kinosaal eng zusammenzusitzen und in eine fiktive Welt einzutauchen?
Meine Antwort auf all diese Fragen lautet ganz entschieden: „Nein!“ und das nicht nur aus dem Grund, weil mein Herz als Schauspielerin selbstverständlich ganz laut und stark für das Kino und das Medium Film schlägt. Ich bin der festen Überzeugung, dass Filme etwas Großes bewirken können. Filme ermöglichen einen Perspektivenwechsel, rütteln wach, regen zum Nachdenken an, bereiten Themen auf, mit denen wir vielleicht niemals so nah in Berührung kommen würden. Besonders jetzt ermöglichen es Filme, Menschen ein Sprachrohr, eine Stimme zu geben, wie zum Beispiel den ukrainischen Filmemacher*innen, die es zu uns nach Deutschland oder anderswo nach Europa geschafft haben. Filme eröffnen neue Welten und erweitern unseren Horizont.

Kino erzeugt ein starkes Gemeinschaftsgefühl, und darum geht es doch bei all den Krisen, die uns derzeit umgeben;
um Gemeinschaft, um das Gefühl, mit diesem Wahnsinn, dieser Trauer, diesem unglaublichen Leid, egal, ob in der Ukraine, im Iran oder sonst wo auf der Welt, nicht alleine zu sein.

Jede*r von uns kann sich bestimmt an mindestens einen Film erinnern, der sein Leben nicht nur bereichert, sondern zutiefst verändert und berührt hat. Bei mir war das u. a. der Film „Persian Lessons“ mit Lars Eidinger und Nahuel Pérez Biscayart in den Hauptrollen, den ich auf der letzten Berlinale vor der Corona-Pandemie gesehen habe. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich von Minute eins an mitgefiebert habe, mitgebangt habe und wie mir am Ende beim Abspann die Tränen in Sturzbächen nur so über die Wangen liefen und der ganze Saal gemeinsam geschluchzt hat. Noch heute bekomme ich an den bloßen Gedanken daran eine Gänsehaut. Ein Kinobesuch ist jedes Mal wieder ein großartiges und nachhaltiges Erlebnis, ein Teilen von Emotionen mit lauter Fremden, die einem durch ebendieses gemeinsame Erlebnis gar nicht mehr so fremd erscheinen. Kino erzeugt ein starkes Gemeinschaftsgefühl, und darum geht es doch bei all den Krisen, die uns derzeit umgeben; um Gemeinschaft, um das Gefühl, mit diesem Wahnsinn, dieser Trauer, diesem unglaublichen Leid, egal, ob in der Ukraine, im Iran oder sonst wo auf der Welt, nicht alleine zu sein.

SARAH STORK
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