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ILONA BROKOWSKI: Lieber Michael, wie würdest du dich selbst bezeichnen, was ist dein beruflicher Schwerpunkt?
MICHAEL ERNST: Schwer zu sagen, ich bin auf mehreren Hochzeiten unterwegs. Mein erlerntes Handwerk ist das Musiktheater. Viele Jahre habe ich in großen Long-Run-Produktionen gearbeitet, später dann vermehrt an Stadttheatern. Als ich mich mehr und mehr dem Synchron widmete, begann alles als Synchronschauspieler und Sänger. Ich arbeite mittlerweile vermehrt in der Synchronregie, sowohl für Sprache als auch für Gesänge.

Die Arbeit als Gesangsregisseur, erzähl doch mal, wie das abläuft?
Entweder ist das komplette Projekt mit Sprache und Gesang in meinen Händen, was von Vorteil ist, oder ich übernehme nur die reinen Gesangsaufnahmen. Es gibt verschiedene Szenarien, wobei das häufigste Szenarium ist, dass die Rolle der Synchronschauspieler*in singt und wir gemeinsam diese Aufnahmen im Studio machen. Mich erwartet dabei eine Qualität von Grammy-Gewinner*in bis hin zur totalen Nicht-Sänger*in – alles ist dabei. Hier ist natürlich Fingerspitzengefühl gefragt, da ich zu 90 Prozent mit Kolleg*innen arbeite, die sich im Gesang nicht komplett zu Hause fühlen und bei denen während der Arbeit auch Selbstzweifel, Ängste und Frust aufkommen. Jetzt muss ich entscheiden: Was ist gerade möglich? Wie kriege ich die Person zu ihrer besten Leistung? Welche Komponente kann ich am ehesten vernachlässigen? Rhythmus, Töne, Sauberkeit, schauspielerische Gestaltung …
Alles auf einmal ist sehr schwer zu bekommen, aber ich kann gut abschätzen, was hinterher in der Bearbeitung noch alles möglich ist. Am glücklichsten bin ich natürlich, wenn die Kolleg*innen sich mit dem Material vorher in Ruhe beschäftigt haben. Klar, nicht jede*r kann Noten lesen oder sofort verstehen, wie der deutsche Text vielleicht auf das Original draufpassen soll, aber jede*r kann sich z. B. „Dancing Queen“ von ABBA anhören und bekommt ein Gefühl dafür, wie der Song funktioniert, wo die schwierigen Stellen sind, einfach wo die Reise hingeht.

Aber da gibt es sicher noch viel mehr zu beachten? Thema Besetzung oder Voice-Match?
Klar, es kommt auch vor, dass Kolleg*innen einfach nicht geeignet sind bzw. von sich aus sagen, dass sie nicht singen möchten. Dann mache ich mich auf die Suche nach einem Voice-Match, das so nah wie möglich an die Stimme rankommt. Der Vorteil dabei ist, dass die Qualität auf musikalischer Ebene in der Regel besser wird. Der Nachteil ist, dass es gerade bei „besonderen Stimmen“ schwierig ist, ein passendes Match zu finden.
Mein Anspruch ist es immer, den Zuschauenden später das eleganteste Hörerlebnis zu bieten und das bedeutet, dass Sprache und Gesang von der- selben Person kommen. Ist das aus irgendwelchen Gründen nicht machbar, versuche ich eine Lösung zu finden, die die wenigsten Kompromisse mit sich bringt.
Was die Besetzung vorab betrifft, so ist es natürlich das Beste, wenn man für die entsprechenden Rollen schon direkt Kolleg*innen besetzt, die auch singen können. Das sind in unserer Branche noch nicht allzu viele, aber es werden immer mehr. Ein großer Gewinn sind da die Leute aus dem Musical. Gerade auch, weil die Fernsehbzw. Streaminglandschaft immer „musikalischer“ wird, sind wir auf Qualität bei den Sänger*innen angewiesen. Guck dir allein mal den Kindersektor an: In welcher Serie wird da denn nicht mehr gesungen? Ich erlebe mittlerweile die komplexesten Songs, ein stilistisches Potpourri aus Pop, Jazz, Musical, Gospel. Und das alles zu bedienen, fällt manchen Kolleg*innen schwer.

Hier ist natürlich Fingerspitzengefühl gefragt, da ich zu 90 Prozent mit Kolleg*innen arbeite, die sich im Gesang nicht komplett zu Hause fühlen und bei denen während der Arbeit auch Selbstzweifel, Ängste und Frust aufkommen.
Die Bezahlung ist unfair, das muss ich schon sagen. Nicht unfair im Sinne von schlecht, sondern
im Sinne von unverhältnismäßig.

Findest du, dass der Gesang beim Synchron wertgeschätzt wird? Welche Stellung nimmt dieser deiner Meinung nach ein? Sowohl von der Bezahlung als auch vom Aufwand von der Studioseite her?
Ich merke schon, dass Gesänge immer mehr Aufmerksamkeit erhalten. Die Synchronstudios stellen sich mehr und mehr darauf ein und verstehen, dass diese Aufnahmen Zeit benötigen. Dennoch habe ich das Gefühl, dass immer mehr Zeitdruck auf uns allen lastet und häufig Entscheidungen aus dem Defizit heraus gefällt werden. Soll heißen, dass Studios oft gar nicht die Kapazitäten haben, sich ausführlich mit Material und Inhalt zu beschäftigen, es soll einfach schnellstmöglich deutsch werden. Egal wie. Klar, pauschale Ansage von mir gerade, aber dieser Nebel hängt häufig über uns aus der Musikabteilung. Die Bezahlung ist unfair, das muss ich schon sagen. Nicht unfair im Sinne von schlecht, sondern im Sinne von unverhältnismäßig. Ich kriege häufig mit, wie Budgets darauf ausgelegt sind, dass die Rollen ihre guten Preise bekommen, die engagierten Chorsänger*innen hingegen aber mit kleinem Geld entlohnt werden. Wer hier mehr Talent hat, ist natürlich relativ, aber klar bekommt die singende Hauptrolle, die vielleicht keinen Ton trifft, eine sehr gute Gage, aber die studierte Sänger*in, die mir im Chor dreistimmige Harmonien hinbrezelt, wird mit einem Bruchteil dessen entlohnt.

Und wie ist das bei den Künstler*innen? Es gibt doch sicher Unterschiede, wie sich die Kolleg*innen auf den Gesang vorbereiten.
Alles ist dabei. Es gibt fantastische Kolleg*innen, die die Arbeit sehr ernst nehmen und sich akribisch auf die Aufnahmen vorbereiten. Verrückterweise sind das meistens Leute, die sich eh recht gut mit Musik auskennen.
Kolleg*innen, die mit Musik wenig am Hut haben, kommen häufig unvorbereiteter zu mir und nicht selten höre ich die Worte „Du singst mir dann ja alles vor.“ Da knirsche ich schon mit den Zähnen und versuche es wegzulächeln, um die Stimmung zu wahren. Aber ehrlich gesagt, ist das nicht mein Ansatz von professionellen Gesangsaufnahmen. Es ist ja kein Hobby-Verein. Wir arbeiten hier für große Kund*innen, die natürlich Qualität erwarten. Kinderserien werden musikalisch häufig unterschätzt, als wäre die Musik hier nicht so anspruchsvoll wie bei „echten Filmen“. Wie differenziert das doch alles ist, merken viele erst, wenn sie vorm Mikrofon stehen und performen müssen.

Was würdest du dir von den Kolleg*innen wünschen?
Eine ehrliche und frühzeitige Kommunikation, was wie wann benötigt wird. Ich und viele andere engagierte Kolleg*innen aus der Musikregie helfen, wo sie nur können. Jede*r Sänger*in hat andere Bedürfnisse und alle sollen bestmöglich in die Aufnahmen gehen können. Dazu gehört auch, dass vonseiten der Studios Material rechtzeitig verschickt wird und die Leute überhaupt eine Chance haben, die Songs zu lernen und zu verinnerlichen.
Wichtig ist zu verstehen, dass Gesangsaufnahmen mehr Engagement benötigen als die klassischen Sprachaufnahmen. No offense. Ich hatte letztens Kontakt zu dem Komponisten einer Kinderserie, die ich seit vielen Jahren betreue. Er sagte mir, dass die Sänger*innen dort in Los Angeles das Material in der Regel einen Tag vorher bekommen und sich alles selbst draufschaffen müssen. Keine Übetracks, keine Korrepetitionsstunden, nichts. Am nächsten Tag haben sie dann ca. 30 bis 60 Minuten Zeit für die Aufnahmen. Hut ab!

Jede*r Sänger*in hat andere Bedürfnisse und alle sollen bestmöglich in die Aufnahmen gehen können.
Man sollte einfach gemeinsam auf eine kleine Kreative Reise gehen und da hilft meist schon ein kurzer telefonanruf

Wie läuft deiner Erfahrung nach der Austausch zwischen Songtexteschreiber*in und Dialogbuchautor*in bzw. Regie – Gibt’s da Verbesserungsvorschläge?
Wenn ich Gesangstexte anfertige und nicht die Dialogregie übernehme, dann komme ich nicht umhin, Kontakt zur Regie aufzunehmen. Wir müssen uns absprechen, was da genau verhandelt werden soll. Da geht‘s schon los mit Vokabeln, wie werden bestimmte Dinge genannt? Essen die Hasen z. B. „Möhren“ oder „Karotten“?
Dann ist es wichtig zu besprechen, ob ich für ein Vorschulformat die Wörter „cool“ oder „krass“ verwenden möchte, oder ob in einem hippen Teenagerfilm der Reim „Sonne und Wonne“ vorkommen sollte. Übersetze ich „lame“ mit „lahm“ oder lasse ich es englisch? Auch Besetzungen müssen akkurat abgesprochen werden. Häufig hat die Aufnahmeleitung nicht die Erfahrung, wie mit Gesängen umgegangen werden soll und so wird der Besetzungsball häufig an die Musikregie abgespielt. Wer soll das singen?
Der*die Schauspieler*in selbst? Kann der*die singen? Kann der*die SOWAS überhaupt singen? Was hast du für Ideen? Wie sollen wir’s machen? Man sollte einfach gemeinsam auf eine kleine kreative Reise gehen und da hilft meist schon ein kurzer ist in Berlin Telefonanruf.

In einer idealen Welt: Wie würden Gesangsaufnahmen und das ganze Drumherum dann ablaufen? Es gibt zu Beginn der Produktionsplanung ein kurzes, knackiges Meeting mit allen Verantwortlichen wie Produktionsleitung, Aufnahmeleitung, Dialogund Musikregie. Alle Karten auf den Tisch: Hauptcast durchsprechen, Optionen abstimmen.
Dann Kontakt zu den Schauspielenden aufnehmen und fragen, was möglich ist. Gesangstexte liegen zwei Wochen vor Drehbeginn redigiert vor und das Material wurde zum selben Zeitpunkt verschickt.
Eine Woche vor den Aufnahmen wird nochmal der Hörer in die Hand genommen und gefragt, ob alles angekommen ist, ob Hilfe benötigt wird. Der*die Sänger*in bereitet sich bestmöglich vor, was bedeuten kann, dass er*sie sich den Song anhand der Noten und der Musik selbst draufschafft oder dass er*sie sich Hilfe holt, evtl. in Form von einem*einer Korrepetitor*in.
Hier ist Eigenengagement gefragt, denn schließlich wollen ja alle, dass die Zuschauer*innen später ein super Ergebnis hören, das auf höchstem Niveau ist und einen emotional packt.

Lieber Michael, vielen Dank für deine Offenheit und das interessante Gespräch!

MICHAEL ERNST
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ILONA BROKOWSKI
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ist in Berlin geboren, ist Diplom-Psychologin und arbeitet seit 27 Jahren als Synchron- schauspielerin. Seit einigen Jahren ist sie außerdem als Dialogbuchautorin und Synchronregisseurin tätig. Sie hat 2006 die Redaktion der UNSYNCBAR mitgegründet und nach Verschmelzung von IVS und BFFS wurde sie Teil der Redaktion des SCHAUSPIEGELS. Ihr Hauptaugenmerk lag und liegt darauf, die Kommunikation in der Branche

zu verbessern. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.