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Verehrtes Publikum, liebe Lesende, direkt zu Beginn werde ich enttäuschen müssen, weil ich den von mir im ersten Beitrag erschriebenen Weg nicht einhalte. Was mit dem Schreibenaus-dem-Jetzt zusammenhängt und den Wünschen für das Jahr 2023, die in unseren Hosentaschen auf ihre Einlösung warten. Das Neue sprüht Fragen nach dem Was-Will-Ich und Was-Brauche-Ich, in dicken Lettern auf die Hauswand.

Everything is about NEED

Im Alter von circa neun Jahren spielte ich den Hirten in der Weihnachtsgeschichte. Der Hirte war die Hauptrolle des Theaterstücks und führte durch die gesamte Erzählung. Am Heiligen Abend wurde das Stück im Gemeinschaftssaal aufgeführt. Meine Nervosität war uferlos, gleichzeitig war die Probenzeit die kostbarste Zeit des Jahres für mich gewesen. Das war Anfang der 90er-Jahre. Damals lebte ich mit meinen drei jüngeren Brüdern in einem katholischen Kinderheim in NRW. Der existenzielle Mangel aus Kindertagen wurde während der Probenzeit vom Bühnenlicht überstrahlt. Ich hatte auf der Bühne, im Schutzraum von Rolle und Stück, ein sicheres Zuhause gefunden. Im Alter von elf Jahren soll ich das erste Mal geäußert haben, dass ich Schauspielerin werden will. Heute weiß ich, mein NEED hat mich zu diesem Beruf geführt.

Wir kennen die Bezeichnung „NEED” z. B. aus der Schauspielarbeit nach Susan Batson. Das NEED beschäftigt sich mit der Bedürftigkeit einer Figur. Wir arbeiten mit dem NEED der Figur, fragen uns nach dem NEED der Rolle und füttern unsere Darbietung mit dem, was die Figur braucht. Und ganz nebenbei können wir uns still und heimlich mit unseren eigenen Bedürftigkeiten beschäftigen. Wenn ich mein schauspielendes Umfeld betrachte, da erlebe ich einen großen Haufen von unbewusstem und persönlichem NEED. Doch anders als in Filmen, wo am Ende die Klappe fällt und „fertig”, verschlingt unser unverarbeitetes NEED Reichtümer der Branche. Sie wird als „Haifischbecken”, als „Fass ohne Boden” oder als „Business der Ego-Eitelkeiten” beschrieben. Wäre es nicht wunderbar, wenn die Branche, die Kolleg*innen und die Arbeitsbedingungen wie ein sicheres Zuhause erlebt werden darf? Ein Ort, wo der Tisch reich gedeckt ist, an dem wir gemeinsam sitzen und der von einem gleißenden Leuchten schöner Erwartungen erfüllt ist.

So which FOOD is good & welche Zutaten brauchen wir dafür? Die verkürzte Anwartschaftszeit zum ALG 1 Anspruch, die ab Januar 2023 in Kraft getreten ist und auch für Schauspieler*innen eine bessere Absicherung bedeutet, bietet einen kleinen Anlass zur Freude und legt Lunte für Kommendes.

JOHANNA SARAH SCHMIDT
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