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Sechs Wochen nach Beginn des ersten Lockdowns in 2020 telefoniere ich mit einer be- freundeten Opernsängerin, die ihre eigene Show in Berlin etabliert hat. Wir sprechen über die Folgen der Schließungen und die Wichtigkeit der Wissenschaft. Unser Job (Theater) käme erst viel später dran, nämlich bei der kollektiven Verarbeitung.

Ich zu ihr: „Oh nein, dann gibt es überall Coronatheater.“
Sie zurück: „Was? Du willst Coronatheater machen?“
Ich: „Auf gar keinen Fall!“
Wir lachen.
Im Frühjahr 2021 bekomme ich den Anruf einer Autorin. Sie hat eine Förderung bekommen und lädt mich ein, mit ihr zusammen ein Stück zu schreiben. Sie: „Irgendwas mit Corona wäre super.“
Ich zurück: „Du meinst über die Lockdowns und so?“
Sie entgegnet: „Ja, verschiedene Perspektiven. Aber auch der komplexe Zusammenhang.“
Ich: „Auf jeden Fall!“
Keiner lacht.
Die Premiere der Performance, in der es um Mehrstimmigkeit der weltweiten Katastrophe geht, findet im Mai hinter Glas mit Kopfhörern, aufwändiger Technik und vollem Körpereinsatz statt. Weil wir erfolgreich sind, unter anderem aufgrund der langen Publikumsgespräche im Anschluss (kollektive Verarbeitung), machen wir weitere Aufführungen im Sommer an ganz unterschiedlichen Orten Berlins. Einmal kommt die Opernsängerin zu Besuch. Sie umarmt mich herzlich und lacht mich aus. „Du wolltest auf gar keinen Fall Coronatheater machen und siehe da: Du bist die Erste!“
Tja … Einige Stimmen der Zuschauer*innen gingen in die Richtung, dass ihnen diese Form der Auseinandersetzung noch zu früh und nahe sei. Viele der anderen Diskussionen nach der Vorstellung drehten sich um Impfdebatten. Ich muss die Schlussfolgerung „erfolgreich“ also wieder etwas zurückschrauben. Aber wann kann von relevantem Theater die Rede sein, wann nicht und wer entscheidet das? Muss die Bedeutung mitschwingen, ein berühmtes Feuilleton rezensieren oder ein ganz unterschiedliches Publikum von links nach rechts erreicht werden – niedrigschwelliges, versautes, rockiges, punkiges Theater? Ich gehe kurz auf das DIY (do it yourself) im Titel ein: So viel Mitspracherecht wie oben beschrieben, hat Mensch nur in der freien Szene (Ausnahmen bestätigen die Regel). Und das, was ich meistens in der freien Szene sehe (und ich will mich da keineswegs ausschließen), ist zwar fast nie perfekt (ja, ja, ist subjektiv), aber immer relevant (ja, ja ist subjektiv, oder nicht?). Da geht es um echte Probleme. Echte, kollektive Ängste. Tatsächliche, gesellschaftliche Entwicklungen. Geile Umsetzungen von dramatischem Strandgut, klassisch bis modern und international. Auch Literatur und DIY – also selbst entwickelt, geschrieben, komponiert und zusammengesetzt. Und vor allem: DIGITAL.
Ein weiteres Beispiel. Eine eingeladene Filmregisseurin zur Premiere oben genannter Performance kam zwar, ließ sich auf einige Biere ein und erzählte von Cannes, wo sie eben noch war, aber eine Rolle hat sie mir nicht angeboten. Darum schreibe ich im Herbst einen Antrag auf eine Förderung für einen bescheidenen, eigenen Kurzfilm: DIY!
Ich bekomme das Geld und lege hochschwanger los. Recherche, Text, Choreografie, Kamerafrau, Ton, Licht, Raum und Action. Am Drehtag marschiert Putin groß angelegt in die Ukraine ein. Mein Kurzfilm handelt von Müttern, die ihre Söhne an den Krieg verlieren, neue Soldaten gebären und sie wieder verlieren. Die Choreografie der Tänzerin, die ich spiele, liegt nicht kopierbar im Tanzarchiv Köln. Überwacht von einer lebendigen Person – meine Wertsachen samt Handy und Laptop an der Pforte abgegeben – und mit Handschuhen versehen, mache ich mich mit Papier und Bleistift an die Arbeit. Ich bekomme später auf den Proben viel Lob von meiner Choreografin dafür! Einige Abende vor meinem Drehtag und dem Ein- marsch Putins frage ich einen Freund im Kontext der Produktion: „Welchen Bezug haben wir zu Krieg?“. Er sagt: „Putin macht mir gerade Angst.“
Die Tänzerin, die ich in oben erwähntem bescheidenen Kurzfilm porträtiere, lebte 1906 – 1989 in Polen, Deutschland und im Schweizer Exil. Ich bin 1986 geboren. Das sagt überhaupt nichts aus, außer dass sie sehr viele Kriege bewusst miterlebt hat, und ich sehr wenige. Mir ging es bei dem Filmportrait auch nicht um Krieg, sondern um ihr Lebenswerk. Wie etliche andere Künstler*innen ihrer Couleur, wurde sie nie angemessen für das anerkannt, was sie tat: relevantes Theater.
Moment, Moment, keine falschen Schlüsse ziehen, bitte! Ich halte mich nicht ansatzweise für so klug, begabt, versiert und schön, wie diese Künstler*innen, von denen ich spreche. Die meisten von ihnen sind im Exil geblieben. Nein, mir geht es um etwas anderes. Und jetzt sind wir am Ende des Artikels an- gelangt. Für wen machen wir relevantes Theater?
Ich habe keine Antwort darauf. Oder immer eine andere. Aber ich glaube, dass sie wichtiger zu stellen ist, als ihre Kollegin „Was ist relevant?“. Alles ist es und nichts ist es. Was heute geschieht, kann sich morgen ändern. Was gestern in einem Licht erschien, wird heute verdunkelt sein und umgekehrt. Wo richten Künstler*innen unseren Blick hin? Wenn ich meine überschaubaren Kanäle scanne, entdecke ich Stimmen ukrainischer Künstler*innen, iranischer Influencer*innen, Aktivist*innen aus der Besetzung des Dorfes Lützerath, von den Hausverboten schockierte Anwohner*innen in Naumburg und Leipzig, aus der Kunstausstellung übers Mutter- sein in Syke. An so vielen anderen Orten herrscht globale Krise. Angola, Malawi, Sambia, Tschad, um nur die Top Four zu nennen (Quelle: taz.de, 12.01.2023). In Hongkong herrscht eine demokrati- sche Krise. Nur traut sich niemand an die komplexe Geschichte Chinas heran.

Aber wann kann von relevantem Theater die Rede sein, wann nicht und wer entscheidet das?

Jo Mihaly: Tänzerin, Kulturakteurin, Schriftstelle- rin, Mutter. Sie hat ihren eigenen Stil im Tanz der 20er- und 30er-Jahre in Berlin entwickelt. Sie hat internationale Gastspiele gehabt. Anders als viele ihrer Kolleg*innen hat sie die Krise der Weimarer Republik nicht mit schönem Tanz „übertanzt“, sondern sich der sozialen Frage dieser Jahre gestellt. Sie hat einen individuellen, mimisch-situativen Tanz entwickelt, der Situationen von Arbeiterschaft, Armut und Elend darstellt, ohne je in Mitleidiges zu ver- fallen. Als die Nationalsozialisten die kommunistischen Wohnblöcke angriffen, man ihr anbot, für das Deutsche Reich zu tanzen, floh sie mit ihrer Tochter, die noch ein Baby war, und ihrem Mann, der jüdisch und Schauspieler war, in die Schweiz. Sie tanzte nie wieder, choreografierte am Schauspielhaus Zürich, ging in die Kulturpolitik des Nachkriegsdeutschland und schrieb Bücher.
Dies ist ein Fest auf das Gefühl von Freiheit, das sich einstellt, wenn ein eigenes Projekt bewilligt wird. Es ist tatsächlich nur ein Gefühl, aber ein sehr relevantes.

EMILIA DE FRIES
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