Seite wählen

EMILIA DE FRIES: Gibt es bei allen verschiedenen Hintergründen Deiner Klient*innen eine Art Wiederkehr, roten Faden oder kleinsten gemein- samen Nenner derjenigen Menschen, die zu Dir kommen?
HEIKE HANOLD-LYNCHS: Ich arbeite mit den unterschiedlichsten Menschen. Die Schauspieler*innen, die zu mir kommen, schätzen neben meiner Kompetenz und Erfahrung besonders meinen genauen, ehrlichen und autonomen Blick. Sie schenken mir großes Vertrauen und blühen auf, weil sie sich gesehen, erkannt und verstanden fühlen.

Hand auf’s Herz: Viele nennen sich Coach. Die meisten mit entsprechender Ausbildung, so auch Du. Viele von ihnen lassen sich staatlich fördern. Wie sollen sich Suchende zurechtfinden?
Mein Weg war definitiv sehr ungewöhnlich. Ich habe neun Jahre in New York mit großen Schauspiellehrer*innen studiert und deren Methodik tief durchdrungen. Für mich war das ein existenzielles Ringen um Lebendigkeit, raus aus der Starre, im Namen der Kunst. Aus Heimweh zog ich zurück nach Berlin. Bei den Probeaufnahmen für eine Kinohauptrolle hatte ich einen Blackout. Ich gab auf.
Dann kam das Angebot, ein Hauptrollen-Ensemble auf den Dreh vorzubereiten und am Set zu begleiten. Ich entschied mich für eine radikal eigene Herangehensweise. Zwölf Jahre arbeitete ich mit großem Erfolg und in großer Leichtigkeit als Coach an professionellen Filmsets, das war damals Pionierarbeit. Mit 47 fing ich wieder selbst an, zu spielen. Wenn es ums Spielen geht, weiß ich, wovon ich rede. Bei aller Subjektivität.
Um Deine Frage zu beantworten: Ich würde recherchieren, was die Coaches und Dozent*innen in der Branchenpraxis selbst draufhaben, was ihr Background ist. Wichtig ist, dass die Chemie stimmt.

Was macht Dein Kanon im Wesentlichen?
Der Wesentlichkeitskanon ist ein einzigartiges Schritt-für-Schritt-Programm, das ich aus meinen Erkenntnissen über die Natur von Glaubwürdigkeit entwickelt habe. Der Wesentlichkeitskanon vermittelt fundamentale Einsichten über die eigene (Rollen-)Identität, die mit Technik nicht greifbar sind. Er wirkt als verlässlicher innerer Anker, als Homebase, egal, wie viel Chaos im Außen herrscht, am Set und im Leben.

Er wirkt als verlässlicher innerer Anker, als Homebase, egal, wie viel Chaos im Außen herrscht, am Set und im Leben.
Für mich ist Krise eine Frage der Perspektive.

Vor der Kamera übertragen sich Subtext und Gedankenwelt besonders deutlich. Das, was gemeint ist, wirkt stärker als das, was gesagt und gezeigt wird. Tiefere Motive setzen sich durch, Wahrheiten finden ihren Weg. Darum habe ich Glaubwürdigkeit und Wahrheit in den Mittelpunkt meiner Arbeit gestellt. Die tiefste, einfachste Wahrheit der Figur, der szenischen Szene, der Produktion, der Schauspieler*innen selbst. Ich habe für und mit den mir An- vertrauten schnellstmöglich Wahrheiten verknüpft. Das Beseelen einer Figur ist ein kreativer Prozess zu einer instinktiven Einfachheit hin. Darauf bin ich mit über tausend Schauspieler*innen tagtäglich unzählige Male immer neu und mühelos zugesteuert und ihre Spielfreude steckte an. Wenn wir lernen, wie wir in diesen Prozess organisch hineinwachsen, durchdringen wir die Figur von innen und kommen in einen Flow. Das machen wir im einwöchigen Wesentlichkeitskanon erstmal mit uns selbst, um die Voraussetzungen dafür zu entwickeln, die Dimension Identität jenseits des Intellekts zu verstehen. – Das liest sich komplizierter, als es ist!

Zurück zur Krise. Wenn wir heiter bleiben wollen, ohne zur Oberfläche abzudriften, dann müssen wir den Abgrund unter uns spüren und gleichsam den Humor nicht verlieren. Kannst Du eine Anekdote aus Deinem Leben teilen oder Deine Gedanken zu den Begriffen Krise und Resilienz beschreiben?
Für mich ist Krise eine Frage der Perspektive. Ich finanziere mich seit meinem 16. Lebensjahr selbst, ohne Netz und doppelten Boden. Meine Instinkte sind gut entwickelt, ich bin intelligent und habe Talent. Ich bin mehrere Male sprichwörtlich ohne Sicherung von der Klippe gesprungen und es war immer richtig. Viele wünschen sich meine Stärke. Ich selbst sehne mich nach dem Gefühl, irgendwo tiefer dazuzugehören. Das hat für mich Humor, irgendwie.

Du hast eine besondere Bindung zu der Stadt New York, die besonders anfänglich der Pandemie sehr hart von ihr getroffen wurde. Wie würdest Du Deine Verbindung dorthin heute von Deiner Heimatstadt Berlin aus beschreiben?
Ich bin im New York der 80er und 90er erwachsen geworden. Damals hieß die Pandemie Aids und hat eine riesige Welle von Solidarität und bedingungsloser Menschenliebe ausgelöst. Wir haben die Kostbarkeit des Lebens bis zur letzten Sekunde gefeiert. New Yorker*innen sind ansonsten pragmatisch und unsentimental. Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Das leben sie, das lebe ich auch. Punkt. Ich bin glückliche Berlinerin und hänge nicht an der Vergangenheit. Aber ich fahre ab und zu hin, um Freund*innen zu besuchen.

Wir müssen als Branche und Gesellschaft lernen, mit Unsicherheiten besser umzugehen.
Wir selbst haben diesen Beruf gewählt, in dem wir ausgewählt werden. Wir haben auch die Wahl, etwas daraus zu machen.

In unserem Vorgespräch erwähntest Du eine Verzerrung des Begriffs Handwerk von vielen Deiner Kolleg*innen. Was sind echte Probleme beim Spielen?
Das Beseelen einer Figur geht über die Anwendung von Handwerk hinaus. Schauspielen ist Handwerk und Kunst. Kunst ist lebendig und setzt einen kreativen Prozess voraus, zu dem auch Unsicherheit gehört. Wir müssen als Branche und Gesellschaft lernen, mit Unsicherheiten besser umzugehen. Schauspieler*innen setzen bei der Rollenarbeit zu sehr auf ihren Verstand. Dadurch wird die Rolle fast immer vorhersehbar bleiben. Und das geht auch auf Kosten der Freude beim Spielen. Wir sind viel mehr als die Vorstellung, die wir von uns, von anderen, von den Figuren haben.

Zu guter Letzt, als Gegengewicht zur Krise will ich von Dir wissen, wie ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit funktioniert?
Schauspieler*innen sind immer wieder aufs Neuein der strukturellen Situation, dass sie gewollt sein müssen, dass man Ja zu ihnen sagt. Das macht was mit der Persönlichkeit. Wir selbst haben diesen Beruf gewählt, in dem wir ausgewählt werden. Wir haben auch die Wahl, etwas daraus zu machen. In der Rollenarbeit ist unendlich viel mehr möglich Wenn man das versteht und nutzt, kann man mit Unsicherheit sehr viel gelassener umgehen

Und für Dich persönlich?
Ich will, dass der Kanon seinen Platz in der Branche findet, weil er einen Quantensprung in der Rollenarbeit ermöglicht, es ist mein Lebenswerk. Ich freue mich auf schöne Rollen und bin erfüllt von dem, was ich tue. Ein paar Rollen sind im Äther. Unser Kinofilm Heikos Welt ist in der Vorauswahl zum Deutschen Filmpreis. Im Spätherbst habe ich mit dem Schauspieler Simon Eckert ein Drehbuch geschrieben und kurz darauf haben wir mit dem Kameramann Axel Schneppat und kleinem Profi-Team einen kurzen Kinofilm realisiert, meine Erstregie. Ich schaue entspannt in die Zukunft und stehe dem Wesentlichen nicht im Weg.

Weitere Infos und Termine für Heikes Wesentlichkeitskanon auf ihrer Website hanold-lynch.de

HEIKE HANOLD-LYNCH
+ posts
EMILIA DE FRIES
+ posts